der erste stein: christoph rütter

Für eine Archi­tektur des Neutralen – eine Art Manifest

Janus ist tot
Die zeit­ge­nös­si­sche Archi­tektur versucht nach Möglich­keit zu pola­ri­sieren. Feinere Unter­schiede und Nuancen finden keine Beachtung mehr. Der Wunsch, durch genaues Betrachten etwas vorerst Unsicht­bares oder einen tieferen Sinn zu entdecken, geht immer mehr verloren durch aktuelle Ober­flä­chen­ar­chi­tektur. Das Janus­prinzip der Verbin­dung von Gegen­sätzen ist vergessen. Es fehlt der neutrale Zwischen­raum in der Archi­tektur, der nach Zeit und Reflexion verlangt.

Hop oder Top
Grund für das Denken in Gegen­sätzen ist der kurze, von einer media­li­sierten Welt vorge­ge­bene Betrach­tungs­takt. Das gepixelte Bild soll innerhalb von Sekunden ein Gebäude erklären und kurzes Interesse wecken. Für inten­sives und tiefer gehendes Betrachten fehlt die Zeit, wenn überhaupt etwas zu entdecken ist, hinter geren­derten Ober­flä­chen in der Stan­dard­größe 800 x 600 Pixeln.

Einfache Klas­si­fi­zie­rungen in binäre Systeme ersetzen eine diffe­ren­zierte Eintei­lung: Pro oder Contra? Hop oder Top? Gefällt mir – gefällt mir nicht? Die Möglich­keit eines Dazwi­schen (des Neutralen) ist nicht vorge­sehen. Eine Kritik, die weder dafür noch dagegen ist, wirkt lang­weilig. Der googelnde Markt verlangt nach Extremen. Der Markt braucht Marken. Für die vom medialen Diktat der Gegen­sätze geprägte Kritik gibt es nur zwei Möglich­keiten: entweder den renom­mierten, unfehl­baren Star­ar­chi­tekten oder den revo­lu­tio­nären Newcomer. In jedem Fall muss den beiden auf den ersten Blick etwas außer­ge­wöhn­lich Kreatives anhaften. Ob das Kreative nur vorder­gründig vorhanden ist, wird meist nicht mehr überprüft. Haupt­sache, die Marke oder das erste Gefühl stimmt. Den gesamten Hinter­grund zu durch­leuchten, ist zu anstren­gend und mit Arbeit verbunden. Wichtig ist nicht die Qualität in der Substanz, sondern der Effekt von Ober­flä­chen. Den Medien ist ein Architekt zu lang­weilig, der nur zurück­hal­tend innovativ oder gar konser­vativ arbeitet. Ein Bauwerk muss immer konse­quent und eindeutig sein. Sonst besteht die Gefahr, einen hete­ro­genen Eindruck zu vermit­teln, der nicht markt­kom­pa­tibel ist. Das Maß der Mitte ist für viele unin­ter­es­sant geworden.

Opern wie Erdbeeren
Egal um welchen Preis, werden noch die absur­desten Gedanken in Archi­tektur gegossen. Häuser dürfen nicht mehr nur Häuser sein. Metaphern werden ohne Trans­fer­leis­tung benutzt. Die Folge sind: Opern, die aussehen wie Erdbeeren oder Diamanten, Museen leicht wie der Wind oder versunken ins Erdinnere. Archi­tekten, die mit feinen Nuancen und reinen archi­tek­to­ni­schen Mitteln arbeiten, haben es schwer in den Ex-und-Hop-Medien.

Jeder zweit­klas­sige Student kann jedoch heut­zu­tage optisch entwerfen wie die meist bere­chen­bare Palette der Star­ar­chi­tekten. Mühelos kopiert er die unter­schied­li­chen Haltungen und kann diese ohne Anstren­gung wechseln. Quali­tativ nicht viel schlechter als sein Vorbild, erntet er leicht Beifall für seine vermeint­liche Orgi­na­lität. Das Prinzip von „copy and paste“ ist schnell und effektiv.

Die gute Archi­tektur beginnt jedoch erst, wenn jemand versucht, sich einem Stil und einer Klas­si­fi­zie­rung zu entziehen.

Ohne Stil ans Ziel
Der Klas­si­fi­zie­rungs­wahn­sinn und das Marken­denken stoßen mitt­ler­weile an ihre Grenzen. Einige Archi­tekten und besonders Archi­tek­ten­teams wollen nicht mehr in Schub­laden abgelegt werden. Sie kulti­vieren einen „Stil der Stil­lo­sig­keit“. Genau hier bietet sich eine neue Chance: die Archi­tektur des Neutralen. Alle, die nicht wissen, oder nicht wissen wollen, wo sie mit ihrer Archi­tektur stehen, können sich auf diesen Stil des Neutralen verstän­digen. Eine junge Gene­ra­tion, die noch nie klare Ziele vor Augen hatte, wäre hier bestens aufge­hoben. Aber was genau ist eine Archi­tektur des Neutralen? Wo liegen ihre Quali­täten? Oder versinkt sie in Belie­big­keit?

Archi­tektur des Neutralen
Archi­tektur war immer dann besonders gut, wenn sie in der Rückschau auf andere Künste gelassen ihre Ausdrucks­form fand. Wegen ihrer substan­zi­ellen Nach­hal­tig­keit sollte sie bedächtig mit künst­le­ri­scher Inno­va­tion umgehen. Den Wettlauf im Aktuellen wird sie ohnehin verlieren. Ihr wahrer Vorteil ist Lang­sam­keit und Sprach­lo­sig­keit. Archi­tektur muss nichts sagen, ist in ihrem Wesen nur Kulisse und Hinter­grund.

Sieht man sich zeit­ge­nös­si­sche Kunst­werke an, fällt auf, dass vor allem die zweck­freien und vorder­gründig sinnlosen Kunst­werke die meiste Kraft und Ausdrucks­stärke haben.

Je neutraler und zurück­hal­tender die Archi­tektur wird, desto mehr wird sie Interesse und Akzeptanz beim Betrachter oder Nutzer finden. Raum­at­mo­sphäre fängt dort an, wo nicht von Außen etwas auf uns einwirkt, sondern der Mensch von seinen Gefühlen etwas heraus­lässt. Nicht provo­kante Formen aus Glas oder Stein, sondern der neutrale Zwischen­raum weckt unsere Emotionen. Das Neutrale zwischen Zeit und Raum ist das Wesen der Archi­tektur. Einer Archi­tektur des Still­stands und des Zweifelns.

Weder Haus noch Straße
Ein erster Ansatz der Idee des Neutralen findet sich beispiels­weise schon im 16. Jahr­hun­dert in der japa­ni­schen Archi­tektur. Der Begriff des ma spielt hier eine entschei­dende Rolle: ma meint einen zwischen Raum und Zeit vermit­telnden Bereich. Dem Wesen der Archi­tektur, dem durch­schrit­tenen Raum, wird hier versucht Ausdruck zu verleihen. Beispiels­weise durch die engawa (Veranda) – ein hete­ro­gener Raum zwischen Innen und Außen, weder Haus noch Straße. Kisho Kurokawa beschreibt die Funktion in seinem Manifest folgen­der­maßen: „Die Existenz eines vermit­telnden Bereichs wirkt mitunter als Kata­ly­sator für Meta­mor­phosen. Meta­mor­phosen als Charak­te­ris­tikum des Lebens.“ Meta­mor­phosen im Übergang zwischen Außen und Innen. Genau diese Meta­mor­phose-Möglich­keiten fehlen in der heutigen Archi­tektur. Sowohl räumlich als auch gedank­lich. Nach Außen gibt sich die zeit­ge­nös­si­sche Event­archi­tektur flexibel und kompro­miss­be­reit. Alles scheint möglich. In ihrem Inneren jedoch ist sie so substanzlos, dass sie keine Verän­de­rung zulässt. Bevor eine Meta­mor­phose statt­findet, sind diese Gebäude veraltet und müssen neuen weichen. Ein Alte­rungs­pro­zess, einher­ge­hend mit einer gewissen Patina, ist nicht vorge­sehen. Die Häuser sind im besten Falle abwaschbar.

Die Idee, eine Lösung in der Mitte und nicht an den Grenzen des Möglichen zu suchen, ist für den abend­län­di­schen Kultur­kreis relativ neu. Sie wird gefördert durch das steigende Interesse für den asia­ti­schen Teil der Welt. Dort ist die Symbiose aus Natur und Technik, Gefühl und Verstand, schon lange selbst­ver­ständ­lich. Die östliche Kultur pflegte schon immer den Ausgleich bezie­hungs­weise den Fluss der Dinge. Die chine­si­sche Archi­tektur wird inzwi­schen für ihre eigene, von der klassisch-west­li­chen Moderne weit­ge­hend unab­hän­gige Sicht­weise geschätzt und anerkannt. Archi­tektur, die in ihrem Wesen immer eine langsame, bestän­dige Kunst war, würde enorm von diesem Ausgleich der Kräfte profi­tieren.

Grau ist unsere Lieb­lings­farbe
Archi­tekten sollten schlichte und funk­ti­ons­lose Häuser gestalten, die erst im Laufe der Zeit ihre Bedeutung und Schönheit entwi­ckeln können. Die Archi­tektur bleibt passiv, sie ist nichts weiter als Entwick­lungs­raum. Eine Archi­tektur der Stadt, wie sie bereits Aldo Rossi in seinem Buch L´Architettura della Cittá gefordert hat. Gefühl und Schönheit der Gebäude kommen aus ihrem Inneren. Der Architekt ist nur Konstruk­teur und Möglich­keits­spender. Keine Idee oder besondere Raffi­nesse spielt sich in den Vorder­grund.

Doch jetzt wird die Sache kompli­ziert und spannend: Wie schafft der Architekt es, dem neutralen Gebäude Sinn und Anspruch zu verleihen? Wo soll er mit seinem mensch­li­chen Gestal­tungs­willen hin? Besteht die Möglich­keit, ihn auszu­schalten? Orte zu schaffen, die zurück­hal­tend und austauschbar sind, darin liegt die Heraus­for­de­rung zeit­ge­nös­si­schen archi­tek­to­ni­schen Schaffens. Wir brauchen Neutral­räume, die eine Entwick­lung nicht vorgeben, sondern zulassen.

Eine neue Archi­tektur des Neutralen zu entwi­ckeln, sollte Ziel unserer Zeit sein. Wir wollen Räume des Neutralen! Grau ist unsere Lieb­lings­farbe!

Dipl. Ing. C. Christoph Rütter (*1972), Architekt, studierte nach einer Ausbil­dung zum Zimmer­mann an der TU Braun­schweig, dem Poli­tec­nico di Milano und der Univer­sität der Künste in Berlin. Diplom 2002. Seitdem lebt und arbeitet er als ange­stellter Architekt in Bonn.

Literatur
Kisho Kurokawa: Das Kurokawa Manifest, 2005
Peter Zumthor: Atmo­sphären, 2006
Wolfgang Fehrer: Das japa­ni­sche Teehaus, 2005
Aldo Rossi: Archi­tektur der Stadt, 1973
O.M. Ungers: Die Badische Landes­bi­blio­thek in Karlsruhe, 1992
Francois Jullien: Über die Fadheit. Eine Eloge, 1999