Welche Theorie?

der erste stein: werner oechslin

Der erste Stein kann gelegt oder geworfen werden. Unter dieser neuen Rubrik erscheinen Beiträge, die beides vermögen: Es sind theo­re­ti­sche Texte von Autoren mit provo­kanten Thesen zur archi­tek­to­ni­schen Praxis, die kontro­vers disku­tierbar sind. Den Anfang macht Werner Oechslin, der bisher nicht als Stei­ne­werfer, sondern als konstruk­tiver Denker in Erschei­nung getreten ist. Er bringt den Stein ins Rollen: Disku­tieren Sie mit – per Leser­brief und auf www​.derar​chi​tektbda​.de/​d​e​r​-​e​r​s​t​e​-​s​t​ein.

Theorie! Anschauung, Vertie­fung, Kontem­pla­tion, Vision! Was alles hat sich bei uns an diesen Begriff gebunden – an hoch­flie­genden Vorstel­lungen insbe­son­dere. Cesare Ripa lässt die Theorie in seiner „Icono­logia“ als eine nach oben blickende Figur auftreten, auf deren Haupt ein Zirkel – das Instru­ment der ‚ratio’ und der Geometrie – ebenfalls nach oben weist, während die Praxis den Zirkel auf dem Boden ansetzt, um zu vermessen. Als „pratica di geometria“ wird die Mess- und Vermess­kunst denn auch stets präzi­siert.

Und die Archi­tektur? Schaut sie nun eher in den Himmel, sucht Erkenntnis in den oberen Sphären, oder macht sie sich am Boden, in der Wirk­lich­keit zu schaffen? Ande­rer­seits, sind diese Sphären denn so deutlich geschieden? Vitruv sieht es jeden­falls genau umgekehrt. Für ihn besteht die vordring­liche Aufgabe der Theorie (der „ratio­ci­natio“) im Erklären und Begründen der prak­ti­schen Vorgänge, die zur Form­ge­bung führen. Und weil auf diese Weise die Theorie auf das Tun, auf die Praxis bezogen ist, sagt er auch ganz deutlich, dass weder der Theo­re­tiker noch der Praktiker für sich allein taugt. Jene, die ohne Bildung („sine litteris“) nur mit Händen arbeiten, werden nicht zum Ziel und zu keiner ‚Autorität’ (!) gelangen. Und die, die glauben mit „ratio­ci­natio“ und Bildung allein erfolg­reich sein zu können, jagen nur einem Schatten nach („umbram non rem persecuti videntur“).

Wie verhält und verhielt es sich dies­be­züg­lich in jüngerer Zeit? Die Abneigung gegenüber selb­ständig – zum Schatten – gewor­denen Theorien hat bei Archi­tekten oft dazu geführt, dass sie alle Energie auf das Tun, das Machen und das ‚form­gi­ving’ allein verlegten. Abge­ho­benen, ‚welt­fremden’ Theorien gegenüber sind sie feindlich einge­stellt, außer es handle sich um die eigene, indi­vi­duell ‚persön­liche’. ‚Man hat seine eigene Theorie’! Autorität ersetzt die Theorie und ihre mühsamen Begrün­dungen. Einer weiter­füh­renden Heraus­for­de­rung will man lieber auswei­chen. Setzungen statt Begrün­dungen! Schließ­lich sollen doch die Bauten selbst für die ‚Theorie’ ihrer Verur­sa­cher stehen. Dazu passt die verbrei­tete Usanz, dass an Stelle tiefer führender theo­re­ti­scher und grund­sätz­li­cher Bemü­hungen – wiederum persön­lich gefärbte – Anekdoten, kleine Geschichten aller Art vorge­kehrt werden. Seltener führt eine eigene Reflexion über den Blei­stift­strich hinaus in einen grund­sätz­li­chen ‚Diskurs’ hinein und mündet womöglich in eine Theorie im vitru­via­ni­schen Sinne der „ratio­ci­natio“, der Erklärung und der Ursa­chen­for­schung. Doch gerade das überlässt der Architekt gerne dem ‚Theo­re­tiker’; und der hat längst auf vergleich­bare Weise seinen eigenen, genau so geschützten, autonomen Status gefunden und vertei­digt ihn durch eigene Setzung und Autorität.

So blieben und bleiben allemal die Welten von Theorie und Praxis getrennt. Der Theo­re­tiker und der Architekt folgen der je eigenen Krea­ti­vität und Phantasie. Ja, es gibt Theo­re­tiker, die ihre Aufgabe gerade darin sehen, Theorien – wie der Künstler sein Werk – neu zu erfinden. Auch dazu, zur Bildung von ‚ad-hoc’-Theorien, die uns möglichst nahe an den Zeitgeist heran­führen sollen, gibt es probate Muster. Je verschlun­gener und nebulöser, umso mehr ist man auf die Person des Erfinders verwiesen. Wieder ersetzt Autorität den Diskurs und verweist weiter auf andere Auto­ri­täten; früher waren es Namen wie Marx und Benjamin, jüngst eher wie Deleuze und Derrida. Zeit­geistig, ‚modisch’ muss es sein, und daran, so glauben viele, erkennt man eine ‚Theorie’ und deren Wert.

Das verbin­dende Band, das ganz wörtlich, nämlich verbind­lich aus der Zusam­men­sicht von Praxis und Theorie – und natürlich bezogen auf das, was die beiden in der Sache tatsäch­lich verbindet – zur Beur­tei­lung der Sach­ver­halte und zur Fest­stel­lung und Beant­wor­tung der entschei­denden Fragen führen sollte, fehlt. Nach der Autonomie der Archi­tektur haben wir auch die Autonomie der Archi­tek­tur­theorie hinzu­ge­wonnen. Letztere ist an Archi­tek­tur­schulen immer noch en vogue. Doch die Metaphern für Zeit­geis­tiges mögen noch so cool und sexy sein, es fehlt oft gerade an einer einseh­baren und nach­voll­zieh­baren Bindung an die archi­tek­to­ni­sche Wirk­lich­keit. Über diese entscheiden andere und andere Kräfte.

Nun ist es nicht so, dass sich der Architekt in modernen Zeiten – Ausnahmen vorbe­halten – auf eine strin­gente ‚diskur­sive’ Erör­te­rung von Problemen verlassen hätte. Eine ‚strenge Wissen­schaft’ hat ihm sowieso nie oder selten, oder aber ausschließ­lich in Bezug auf ganz andere, bere­chen­bare Dinge behagt. Das entspre­chende Muster der Scheidung von Ingenieur und Architekt hat ausge­rechnet Le Corbusier in seiner berühmten, „Vers une archi­tec­ture“ voran­ge­stellten Defi­ni­tion bestärkt: „calcul“ dem Ingenieur, die ‚Duch­geis­ti­gung’ in der „ordon­nance des formes“ und deren Effekt, die „beauté“ dem Archi­tekten!

Auch die promi­nen­testen Archi­tek­tur­theo­re­tiker jener Zeit wie Leo Adler und Hermann Sörgel haben die Loslösung der ästhe­ti­schen Frage als gott­ge­geben akzep­tiert. Was wundert da, dass der Architekt umständ­li­ches Begründen durch grif­fi­gere Methoden des Darstel­lens und der Propa­ganda ersetzt. Gropius hat das erste Bauhaus­buch 1925 als „Bilder­buch“ vorge­stellt. Giedion ‚entschul­digt’ sich 1928 in „Bauen in Frank­reich“ an den „eiligen Leser“ gerichtet, man könne „den Gang der Entwick­lung aus den beschrif­teten Abbil­dungen ersehen“. Dort hat Laszlo Moholy Nagy Pfeile hinzu­ge­setzt, damit diese Lesart auch wirklich im Sinne des Erfinders und seiner im typo­gra­phi­schen Symbol exem­pli­fi­zierten Teleo­logie nach­voll­ziehbar würde. All das hat Nach­ah­mung bis zum Exzess gefunden. Rem Koolhaas nennt sein „S, M, L, XL“ eine Novelle über Archi­tektur, fügt aber auch gleich hinzu: „a free-fall in the space of the typo­gra­phical imagi­na­tion“. Soweit hat es also der archi­tek­to­ni­sche ‚Diskurs’ gebracht! Und es „schämt sich die Vernunft zu betteln, und zu graben hat sie weder Hände noch Füße“, sagt schon Jacobi. Denken ist lang­wierig, umständ­lich, zu umständ­lich für den, der im flotten Zugriff und „auf einen Blick“ das Ziel zu erreichen glaubt.

Ist das zu schwarz gemalt? Jeden­falls ist es Anlass genug, um einige der Grund­be­din­gungen einer Theorie der Archi­tektur in Erin­ne­rung zu rufen.

Ohne Wissen geht es nicht!
Zur Theorie gehören auch die ‚theo­re­mata’, wie sie gemäß Diodorus Siculus Pytha­goras aus Ägypten geholt hat; es gibt sie schon, Erfah­rungen, Einsichten und Kennt­nisse, und darauf kann man aufbauen, in kriti­scher Begegnung und Ausein­an­der­set­zung. Doch es hält sich immer noch hart­nä­ckig die Meinung, dass Wissen der Krea­ti­vität abträg­lich sei. Die Haupt­auf­gabe des wahren Künstlers – und auch des Intel­lek­tu­ellen – sei es, sich von allem zu befreien, um dann unbe­schwert zum Höhenflug anzu­setzen und sich ungestört – und ohne Boden­haf­tung – der freien Phantasie hinzu­geben. Noch sind die futu­ris­ti­schen Parolen von 1910 lebendig: „Distrug­gere il culto del passato, l’ossessione dell’antico, il pedan­tismo e il forma­lismo acca­de­mico“, und damit korre­spon­die­rend: „Esaltare ogni forma di origi­na­lità anche se temeraria, anche se violen­tis­sima“. Origi­na­lität um jeden Preis!

In der vierten Gene­ra­tion nach jenen Propa­gan­disten, gleichsam in der ‚histo­ris­ti­schen Phase der Moderne’ ist das längst obsolet geworden; und gleich­wohl koket­tiert man immer noch mit avant­gar­dis­ti­schen Vorstel­lungen. Führt das weiter? Und wie soll Neues entstehen, wenn es sich nicht am Bestehenden orien­tiert? Auch das Wissen um den geschicht­li­chen Zusam­men­hang ist nicht verzichtbar. Aus all dem, so darf man immer noch hoffen, fände man dann zum „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschul­deten Unmün­dig­keit“, woraus ja die Empfeh­lung kam „sapere aude“; „habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Gerade deshalb braucht man keine Angst vor einem ausufernden Wissen zu haben. Vitruv hat auch dieses Risiko bedacht. Gegen Pytheos argu­men­tiert er, der Architekt müsse nicht alles Wissen besitzen, sondern gerade soviel, wie er braucht. Das ist zwar wenig verbind­lich, aber umso umsich­tiger formu­liert. Massgabe und Notwen­dig­keit des Wissens ergeben sich aus der Sache, aus der Aufgabe, deren Fort­schreiten und Entwick­lung.

Auf den Weg, die Methode kommt es an!
In diesem Sinne ist Wissen stets gerichtet. Und auf diese Ausrich­tung, auf den Weg und die Methode kommt es an. Was darf man erwarten, was fordern? Hegel schreibt in der Vorrede zu seiner „Ency­lo­pädie“, man „sollte zwar anfäng­lich einer mindern Strenge der wissen­schaft­li­chen Methode und einem äußer­li­chen Zusam­men­stellen Raum lassen“. Doch dann macht sich die Strenge des natür­li­chen Wissens­trieb bemerkbar: „allein die Natur der Sache bringt es mit sich, dass der logische Zusam­men­hang die Grundlage bleiben musste“; nur so kann man überhaupt hoffen, auf den „schwersten Weg“ hin zur „wissen­schaft­li­chen Erkenntnis der Wahrheit“ zu gelangen. Ist das zu hoch gegriffen? Allein, was anderes soll uns die Methode bieten, als einen möglichen richtigen Weg auszu­kund­schaften, um ein Ziel auf best­mög­lichste Weise zu erreichen.

Die Alter­na­tive heißt – und hieß – wohl, sich auf Regeln zu verlassen. Das hat die Archi­tektur in reich­li­chem Ausmaß getan, obwohl sie weiß, dass das einer Zemen­tie­rung von Zuständen in beson­derer Weise förder­lich ist. „Et Vignole – enfin – est foutu! Merci! Victoire!“, trium­phierte Le Corbusier… und hinterher lief eine ganze Gene­ra­tion von Archi­tekten mit dem bei 2.26 Meter geeichten Zollstock von Baustelle zu Baustelle. Der Architekt liebt die Regel, die Autorität und das Vorbild; ab-bilden ist schneller als mühsam er-arbeiten. An Letzteres ist die Frage geknüpft, wie man aus Erfahrung lernen kann. Palladios Mentor Daniele Barbaro betont, dass aus wieder­holter und anein­an­der­ge­fügter Erfahrung „ars“, Kunst – als Vermögen und Kompetenz – entsteht. Er beschreibt den induk­tiven Vorgang einer nie endenden Reihe und Wech­sel­wir­kung von Erfahrung und fest­ge­hal­tener, vorüber­ge­hend verbind­li­cher Einsicht. Nicht von oben abge­leitet, sondern – wie es Semper beschreibt – aus dem Einzelnen entwi­ckelt ist ein solcher Gang der Erkenntnis und der Suche nach einer „hervor­tre­tenden Gesetz­lich­keit und Ordnung“. Palladios „regole univer­sali“ beschrieb diesen Grundsatz und kein einzelnes Mass und keine einzelne Form, deshalb findet man bei ihm – entgegen kunst­ge­schicht­lich ober­fläch­li­cher Lehre – nie iden­ti­sche, nur immer variierte Werke. Das dritte fügt sich dem nahtlos an:

Wissen und Einsicht drängen zur Darstel­lung!
Nein, es geht nicht einfach um ‚bild­ge­bende Verfahren’, sondern um die alte Einsicht, wonach Kunst ein Inneres (eine Vorstel­lung) im Äußern zur Darstel­lung bringt, wobei nun eben auch hier der begrün­dete Zusam­men­hang (bei Bötticher die „Junktur“) entschei­dend ist. Dies ist auf dem Weg – der Methode – zu erreichen. Und weil jeder Akt des Bauens unver­meidbar etwas Neues in die Welt bringt, ist dieser Vorgang offen und bildet die wich­tigste Heraus­for­de­rung – als Synthese aus Theorie und Praxis. Niemand hat das besser formu­liert als Schinkel, der dabei das Wörtchen „Critik“, letztlich für Urteils­kraft, einflicht und für diesen wesent­li­chen Tatbe­stand einer die Praxis erklä­renden und in ihr aufzei­genden Theorie (Vitruvs „demons­trare atque explicare“) vorkehrt. Schinkels Satz:

„In der Kunst muß der Gedanke immer auf Verwirk­li­chung gerichtet seyn, und in der Darstel­lung die Critik heraus­treten, die dem schöp­fe­ri­schen Geiste nothwendig bei wohnen muß.“

Prof. em. Dr. Werner Oechslin (*1944) studierte Kunst­ge­schichte, Archäo­logie, Philo­so­phie und Mathe­matik in Rom und Zürich, wo er 1970 promo­viert wurde. 1980 folgte die Habi­li­ta­tion in Berlin. Von 1985 bis zu seiner 2009 erfolgten Emeri­tie­rung war er Ordi­na­rius für Kunst- und Archi­tek­tur­ge­schichte an der ETH Zürich und von 1987 bis 2006 Direktor des Instituts für Geschichte und Theorie der Archi­tektur (gta). Er ist Stifter und Gründer der „Stiftung Biblio­thek Werner Oechslin“ in Einsie­deln.