Die rote Wohn­fa­brik

kriti­scher raum

Wohnen am Lokdepot von ROBERT­NEUN, Berlin, 2006 – 2016

Die Monu­men­ten­brücke an der gleich­na­migen ost-west-orien­tierten Straße war lange Zeit ein typischer Ort in Berlin, an dem man die Weite und Härte der Stadt ablesen konnte. Das breite Bauwerk über­spannte eine  Vielzahl von Eisen­bahn­gleisen ziemlich genau zwischen Gleis­dreieck und Südkreuz. Im Winter pfeift hier immer noch ein eisiger Wind über die Nord-Süd-Trasse.

Die meisten Gleis­stränge sind inzwi­schen verschwunden, und nördlich der Brücke ist 2014 nach Plänen der Land­schafts­ar­chi­tekten Atelier Loidl der soge­nannte Flaschen­halspark entstanden – ein der Geschichte des Geländes ange­mes­senes Stadtgrün, dass die letzten Eindrücke der Indus­trie­brache nicht voll­ständig überformt. Das gleiche Büro entwarf auch den weiter südlich anschlie­ßenden neuen Monu­men­ten­platz im Zwickel zwischen Brücke  und der Straße „Am Lokdepot“, die zu denk­mal­ge­schützten Loko­mo­tiv­schuppen aus den 1930er Jahren führt. Der Platz ist das Binde­glied zwischen der barrie­re­frei nutzbaren „Schö­ne­berger Schleife“, die als Grünzug Südkreuz und Gleis­dreieck verbindet. Der Höhepunkt des origi­nellen Kinder­spiel­platzes im Platz­zen­trum ist ein anspruchs­voller Klet­ter­par­cours aus rotge­stri­chenem Stahl, der an die ehema­ligen Gleise, Brücken und Bahngüter erinnert.

DEU, Berlin, 09/2015, Am Lokdepot, Architekt: Robertneun, Bildtechnik: Digital-KB
ROBERT­NEUN, Wohnen am Lokdepot, Berlin 2006 – 2016, Foto: Werner Huth­ma­cher
DEU, Berlin, 09/2015, Am Lokdepot, Architekt: Robertneun, Bildtechnik: Digital-KB
ROBERT­NEUN, Wohnen am Lokdepot, Berlin 2006 – 2016, Foto: Werner Huth­ma­cher

Farbe und Material dieser Möblie­rung leiten über zu einem der viel­leicht prägnan­testen Wohn­bauten, die in den letzten Jahren in Berlin entstanden sind: Über der Böschung setzt nach Süden eine sieben­ge­schos­sige, annähernd menni­gerot gefärbte Bebauung an, die seit 2014 konti­nu­ier­lich fort­ge­setzt wird. Ursprüng­lich sollte hier ein großer einge­schos­siger Super­markt gebaut werden. Nils Buschmann und Tom Friedrich, die Inhaber von ROBERT­NEUN, die passen­der­weise mit ihren Entwürfen für die „Premium“-Lebensmittelkette „Frische Paradies“ bekannt geworden sind, gelang es schon 2006, im Zuge eines aufre­genden Planungs­pro­zesses den Projekt­ent­wickler UTB davon zu über­zeugen, dass an der Monu­men­ten­straße und ihrer atmo­sphä­risch nach­wir­kenden indus­tri­ellen Vergan­gen­heit Wohnen im Eigentum die bessere Alter­na­tive wäre. Sie entwi­ckelten ein Konzept für ein Ensemble von 17 Häusern, die bis 2017 mit einer neuen Stadt­kante zu den Gleisen eine bisher offene „halbe“ Block­rand­be­bauung des Histo­rismus schließen sollen.

Die Bauten sind als Stahl­be­ton­ske­lett­kon­struk­tion ausge­führt. Auf einem Sockel aus wieder­ver­wen­deten Back­steinen, der ursprüng­lich für groß­flä­chige gewerb­liche oder kultu­relle Nutzungen konzi­piert wurde, sitzen sechs Wohn­ge­schosse. Deren abwech­selnd durch weit vorsprin­gende Balkons und Loggien stark struk­tu­rierte Fassade vermit­telt den seriellen Eindruck eines Indus­trie­baus. Die Archi­tekten haben – in enger Zusam­men­ar­beit mit Atelier Loidl – bei der Gestal­tung der Gebäude darauf gesetzt, sich nicht nur mit Hilfe eines „atmo­sphä­ri­schen Städ­te­baus“ auf Elemente der urbanen Umgebung wie die verklin­kerten Lokdepots und die Gleis­an­lagen zu beziehen, sondern auch die Stimmung der Brache zu respek­tieren. Daraus entwi­ckelten sie ein Konzept für ein „Fabrik­wohnen“ – will sagen: Loft­woh­nungs­haus: einen robusten Rohbau, dessen mate­ri­elle Ästhetik auf Sicht­beton angelegt ist.

Drei Lofttypen in den drei Konfek­ti­ons­größen S, M und L sind in drei entspre­chenden Haustypen unter­ge­bracht, die für die Varianz des Ensembles sorgen. Sie erlauben Wohnungs­größen von etwa 50 bis zu 160 Quadrat­me­tern. Der kleine Bautyp ist sieben Meter breit und hat Wohnungen, die in zwei paral­lelen Strängen zum „Durch­wohnen“ und zumeist zwei- oder drei­ge­schossig angelegt sind. „Haus M“ ist doppelt so breit, seine Lofts verfügen auf annähernd quadra­ti­schem Grundriss über Einbauten für Küche, Bad und Lift, der direkt in der Wohnung anhält. Der größte Typ schließ­lich hat eine Breite von 21 Metern, und seine Wohnungen haben den modischen Luxus von zwei zuein­ander versprin­genden Ebenen, die – abgesehen vom fest­ste­henden Erschlie­ßungs­kern – im Raster frei zu unter­teilen sind. Das Stahl­be­ton­ske­lett lässt bei diesem Typ variable Grund­risse durch Wand‑, Regal- oder Schrank­ein­bauten oder auch nur Vorhänge zu, die nach Belieben des Eigen­tü­mers immer wieder verändert werden können.

DEU, Berlin, 03/2014, Am Lokdepot, Architekt: Robertneun, Bildtechnik: Digital-KB
ROBERT­NEUN, Wohnen am Lokdepot, Berlin 2006 – 2016, Foto: Werner Huth­ma­cher
DEU, Berlin, 03/2014, Am Lokdepot, Architekt: Robertneun, Bildtechnik: Digital-KB
ROBERT­NEUN, Wohnen am Lokdepot, Berlin 2006 – 2016, Foto: Werner Huth­ma­cher

Im „Urtyp“ verfügt der große Typus über ein einein­halb­ge­schos­siges, 4,50 Meter hohes  „Gewächs­haus“, das analog zu den Winter­gärten der PILE-UP-Häuser von Hans Zwimpfer (Zapco) das Raum­pro­gramm um ein schönes Licht- und Luft­erlebnis vergrö­ßern. Auch bei den anderen Typen des „Wohnens am Lokdepot“ scheinen die seriell stapel­baren und zugleich überaus indi­vi­dua­li­sier­baren Wohnungs­typen Zwimpfers verdiente Nach­wir­kungen zu erleben. Anders als bei den glatten Wohn­häu­sern der Schweizer Archi­tek­tur­firma jedoch entscheiden die Bewohner der ROBERT­NEUN-Häuser über die Wirkung der Innen­räume selbst, indem sie wahlweise auf die Wirkung des Sicht­be­tons und Über­putz­lei­tungen der Haus­technik vertrauen, oder den Beton spachteln und die Haus­technik in abge­hängten Decken verschwinden lassen. Der Ausblick über den Monu­men­ten­platz und die Indus­trie­land­schaft des ehema­ligen Bahn­kör­pers auf die Silhou­ette der Stadt nobi­li­tiert ihre Situation in jedem Fall.

Die „Typen­lehre“ von ROBERT­NEUN bildet sich im Äußeren des Gebäudes ab. „Haus S“ zeigt sich zur Stra­ßen­seite mit erker­ähn­li­chen Ausbauten. Der M‑Typ ist an langen Loggien zu erkennen, die auf der rück­lie­genden Seite als Lauben­gänge mit frei vorge­stellter Feuer­treppe wieder­kehren. Haus L wiederum wird an den weit vorkra­genden Balkons kenntlich, die leicht versetzt zuein­ander das plas­ti­sche Relief des Baus domi­nieren. Die rot gestri­chenen Alurahmen der in Schupp-und-Kremmer-Manier waage­recht gequa­derten Fenster und boden­tiefen Fens­ter­türen, der rotge­färbte Sicht­beton und die groben Maschen­draht­brüs­tungen der Balkone und Loggien sind also nicht allein eine Reaktion auf den Charakter der Umgebung, sondern bilden auch die Raum- und Besitz­ver­hält­nisse im Innern ab.

Eine voll­stän­dige Umsetzung des Konzepts blieb ROBERT­NEUN verwehrt. Buschmann und Friedrich haben nur sieben der Gebäude selbst zu Ende gebracht. Der Bauherr UTB sehnte sich so sehr nach Planungs- und Kosten­si­cher­heit und noch effi­zi­en­terer Vermark­tung, dass sich die Wege trennten. Zwar hat sich die Entwick­lungs­ge­sell­schaft verpflichtet, den Gestal­tungs­rahmen der Archi­tekten zu respek­tieren, doch gibt es unter anderem Redu­zie­rungen bei der Umsetzung der „Gewächs­häuser“ und bei der Fassa­den­struktur. Das Endgrund­stück an der südlich gelegenen Duden­straße verkaufte der Bauträger an einen anderen Investor, der dort einen gläsernen Kopfbau erstellen will. Viel­leicht erweist sich die Struktur des Ensembles dennoch als so stark, dass ihr die Mini­mie­rungen der späteren Ausfüh­rung nicht schaden können. Ansonsten bleiben die ersten Bauten hervor­ra­gende Anschau­ungs­bei­spiele für flexiblen und origi­nellen Wohnungsbau in städ­ti­schem Kontext. 2017 wissen wir mehr. Verkauft wurde – bei einem Preis ab 3.300 Euro pro Quadrat­meter – bisher offenbar alles.

Andreas Denk

DEU, Berlin, 09/2015, Am Lokdepot, Architekt: Robertneun, Bildtechnik: Digital-KB
ROBERT­NEUN, Wohnen am Lokdepot, Berlin 2006 – 2016, Foto: Werner Huth­ma­cher
DEU, Berlin, 09/2015, Am Lokdepot, Architekt: Robertneun, Bildtechnik: Digital-KB
ROBERT­NEUN, Wohnen am Lokdepot, Berlin 2006 – 2016, Foto: Werner Huth­ma­cher
DEU, Berlin, 03/2014, Am Lokdepot, Architekt: Robertneun, Bildtechnik: Digital-KB
ROBERT­NEUN, Wohnen am Lokdepot, Berlin 2006 – 2016, Foto: Werner Huth­ma­cher
DEU, Berlin, 03/2014, Am Lokdepot, Architekt: Robertneun, Bildtechnik: Digital-KB
ROBERT­NEUN, Wohnen am Lokdepot, Berlin 2006 – 2016, Foto: Werner Huth­ma­cher