Fort­schritt

Die Gesell­schaft und ihre Archi­tektur

Was heißt eigent­lich „Fort­schritt? Und was bedeutet der Begriff in der Über­tra­gung auf die Archi­tektur? Im 18. und 19. Jahr­hun­dert, auch noch im 20. Jahr­hun­dert war die Verwen­dung des Begriffs über einen wesent­li­chen Zeitraum eindeutig und unbe­stritten. Jedoch ist dem „Fort­schritt“ im Laufe seines gesell­schaft­li­chen, tech­ni­schen und ökono­mi­schen Bedeu­tungs­wan­dels immer mehr ideo­lo­gi­sche Bedeutung zuge­kommen. Die Art und Weise beispiels­weise, wie Sigfried Gideon die Archi­tektur des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts kompi­lierte, um sie zu einer Triumph­ge­schichte der Moderne mit der Schöp­fungs­krone Le Corbusier zu verdichten, ist dafür sympto­ma­tisch. „Fort­schritt“ im teleo­lo­gi­schen Sinne wurde so zu einem Leit­be­griff der Moderne.

Mit der begin­nenden Kritik an der Moderne wiederum geriet auch der Fort­schritts­be­griff in Miss­kredit. Heute, in einer Zeit, in der die Komple­xität und Rela­ti­vität von Ereig­nissen und Hand­lungen mehr als je zuvor bewusst ist, ist nicht nur Ideo­lo­gie­kri­ti­kern der Glaube an die Linea­rität einer gesell­schaft­li­chen, tech­no­lo­gi­schen, wirt­schaft­li­chen oder ästhe­ti­schen Entwick­lung, die vor allem positiv bewertet ist und womöglich auf ein ideales Ziel zuläuft, weit­ge­hend geschwunden. „Fort­schritt“ belegen heute viele zugleich mit dem negativ konno­tierten Wort der „Fort­schritts­gläu­big­keit“ als Ausdruck einer einfältig-opti­mis­ti­schen Auffas­sung von Erfin­dungen oder Entwick­lungen, die die Auswir­kungen mensch­li­cher Hand­lungen nur unzu­läng­lich in den Blick nimmt. Unsere Erfah­rungen mit der eigenen Zivi­li­sa­tion belegen, dass das, was technisch oder ökono­misch als Fort­schritt betrachtet wird, nicht zwangs­läufig auch sozialen Fort­schritt bedeuten muss. Der soziale Fort­schritt wiederum bedarf offenbar nicht zwangs­läufig einer ökono­mi­schen oder tech­ni­schen Grundlage.

Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, ca. 1503 / 1504, Museo del Prado, Madrid

Diese Unglei­chungen gelten auch und besonders für die Archi­tektur als Kombi­na­tion künst­le­ri­scher, tech­ni­scher und sozialer Impli­ka­tionen. Konnte Gottfried Semper noch Mitte des 19. Jahr­hun­derts in einer Über­tra­gung der Methodik der Natur­wis­sen­schaft seiner Zeit auf sein Metier annehmen, dass sich die Archi­tektur aus einer Art Urkon­struk­tion entwi­ckelt habe, die sich im Laufe der politisch-sozialen Entwick­lung der Gesell­schaft immer weiter diver­si­fi­zierte und sich auf eine demo­kra­ti­sche Form hin entwi­ckele, fehlt der viel­stim­migen Gegenwart eine solche Über­ein­kunft völlig. So lässt sich analog zur stilis­ti­schen Diver­si­fi­zie­rung der Archi­tektur eine immer weit­ge­hen­dere Diffusion ihrer funk­tio­nalen, konstruk­tiven, ökolo­gi­schen und ästhe­ti­schen Ziel­set­zung beob­achten.

Um Lösungs­an­sätze für die immer sicht­ba­reren Probleme unserer Lebens­welt im 21. Jahr­hun­derts zu bieten, müsste in der Archi­tektur eine Kette von Entwick­lungen statt­finden, die ihren „enzy­klo­pä­di­schen“ Anspruch (Gerd de Bruyn) erneuert. Die bereits beim 17. Berliner Gespräch 2012 unter dem Motto „Archi­tektur als Lebens­mittel“ gefor­derte Weiter­ent­wick­lung der Archi­tektur zu einer Quer­schnitts- oder „Lebens­wis­sen­schaft“, die auch die anderen Künste und Gesell­schafts­wis­sen­schaften in Analyse und Entwurf mitein­be­zieht, bleibt bestehen. (s. der architekt 1/13, S. 17 ff.).

Beim Berliner Gespräch 2013 sind deshalb unter­schied­liche Felder des tech­ni­schen und des sozialen „Fort­schritts“ im Hinblick auf ihre Auswir­kungen unter­ein­ander kritisch disku­tiert worden. Dabei richtete sich das Erkennt­nis­in­ter­esse zunächst auf die Auswir­kungen der unter­schied­li­chen Entwick­lungen auf das Leben der Menschen allgemein, auf die Gültig­keit des Begriffs selbst und auf die Auswir­kungen auf die planenden Diszi­plinen. Die Diskus­sion wird einge­leitet durch Beiträge, die die grund­sätz­li­chen philo­so­phi­schen Bedeu­tungs­ebenen des Begriffs „Fort­schritt“ venti­lieren (Armin Nassehi) und die Möglich­keit und Umstände eines archi­tek­to­ni­schen Fort­schritts erwägen (Gerd de Bruyn). Der weitere Verlauf des Berliner Gesprächs 2013 wurde durch eine offene „Arena-Diskus­sion“ mit Refe­renten aus verschie­denen Diszi­plinen (die Kultur­his­to­ri­kerin Susanne Hauser, der Medi­en­spe­zia­list Nico Lumma, der Philosoph Jan-Christoph Heilinger und der Architekt Thomas Willemeit) bestritten, die den Begriff des „Fort­schritts“ aus Sicht ihrer Wissen­schaft, aber immer auch im Hinblick auf die Auswir­kungen auf Gesell­schaft, Archi­tektur und Stadt unter­ein­ander, mit den Mode­ra­toren Matthias Böttger und Andreas Denk sowie mit dem Publikum disku­tiert haben. Die Konse­quenzen liegen auf der Hand.

Prof. i.V. Andreas Denk studierte Kunst­ge­schichte, Städtebau, Technik‑, Wirt­schafts- und Sozi­al­ge­schichte sowie Vor- und Früh­ge­schichte in Bochum, Freiburg i. Brsg. und in Bonn. Er ist Archi­tek­tur­his­to­riker und Chef­re­dak­teur dieser Zeit­schrift und lehrt Archi­tek­tur­theorie an der Fach­hoch­schule Köln. Er lebt und arbeitet in Bonn und Berlin.

Abb.: Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, ca. 1503 / 1504, Museo del Prado, Madrid (via wikimedia)

Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, ca. 1503 / 1504, Museo del Prado, Madrid