Fort­schritt und Tradition

Ein dialek­ti­scher Exkurs

Wie beginnen mit dem Fort­schritt? Bereits dort, wo die moderne Fort­schritts­de­batte begann und Archi­tekten mit im Boot saßen? Dann müssten wir zurück ins 17. Jahr­hun­dert, in die Zeit der Querelle des Anciens et des Modernes, als François Blondel, der erste Direktor der Pariser Archi­tek­tur­aka­demie und Claude Perrault, der die Louvre-Kolon­naden entwarf, die Schwerter kreuzten. Oder reicht uns das 18. Jahr­hun­dert, als Rousseau die Bühne betrat und die Frage nach den sitt­li­chen Erträgen von Kunst und Wissen­schaft mit seiner Funda­men­tal­kritik des Fort­schritts beant­wor­tete? Wäre mein Ansinnen ein histo­ri­sches, dürfte ich kaum später einsetzen. Da ich mich aber an der Philo­so­phie orien­tieren möchte, sollten fünfzig Jahre reichen, um genügend Abstand zu wahren zu einer Gegenwart, in der nur ökono­mi­sche und tech­ni­sche Erträge noch etwas zählen. Ob das zeitliche „In-Distanz-Gehen“ irgendwas am Lauf der Dinge ändern könnte? Ich fürchte: nein. Immerhin können wir uns einbilden, auf diese Weise an einem Gedächtnis mitzu­bauen, das denen zugute kommt, die sich dazu entschließen, diese Gesell­schaft zu verändern.

I
Fünfzig Jahre zurück – beginne ich daher mit einem Zitat, das mit einem leicht verän­derten Halbsatz beginnt, den Theodor W. Adorno 1962 äußerte, in einem Vortrag über Fort­schritt. Der zweite Teil besteht aus einer Aussage Peter Alten­bergs, die noch ein ganzes Stück älter ist. Ich erlaube mir das, weil es Adorno selber war, der dieses und anderes von Altenberg in seinen Fort­schritts­vor­trag einbaute. Die Zitat­col­lage lautet: „…der Fort­schritt ereignet sich, wenn er endet und alle Menschen ganz fein, ganz zart, ganz liebevoll sein werden.“1Adorno schreibt wörtlich: „der Fort­schritt ereignet sich dort, wo er endet“, und zitiert eine Seite später aus einer Auswahl der Texte Peter Alten­bergs, die Karl Kraus besorgte: „Alle Menschen werden einst ganz fein, ganz zart, ganz liebevoll sein“. (in: Theodor W. Adorno: Stich­worte. Modelle 2, Frankfurt am Main 1970, S. 37,38) ↩︎

Damit ist schon alles Wesent­liche zum Thema gesagt, auch in Verbin­dung mit Archi­tektur. Einige werden mir viel­leicht zustimmen und das Zitat intuitiv für richtig halten. Um es auch zu verstehen, benötigen wir etwas Zeit und einen weiteren Satz aus Adornos Vortrag, der noch erklä­rungs­be­dürf­tiger ist. Er lautet: „Alles schreitet fort in dem Ganzen, nur bis heute das Ganze nicht.“2 Das klingt beinahe so rätsel­haft wie das delphi­sche Orakel.a.a.O. 35 ↩︎

Was ist das Ganze? Es ist die westliche Zivi­li­sa­tion, die von einem Wirt­schafts­system geprägt ist, in dem eine Minder­heit über die Mehrheit der Produk­ti­ons­mittel verfügt, was weltweit zu Konflikten führt. Diese, sagt Adorno wörtlich, sind „so unver­nünftig, schick­sal­haft und bedroh­lich wie von altersher“.3 In letzter Stei­ge­rung ist das Ganze die Mensch­heit, die immer schon, eben von altersher, durch Lebensnot und unge­rechte Verhält­nisse bedroht ist. Aus diesem Grund, heißt es im Text weiter, obliege der Mensch­heit laut Kant die wich­tigste Aufgabe, die uns die Natur stelle: die Herstel­lung „einer voll­kommen gerechten bürger­li­chen Verfas­sung“4, in der sich die Freiheit des Einzelnen vollzieht und wieder auflöst durch strenge Gesetze, die die Freiheit der anderen schützen.
Kant beschwört ein Ganzes herauf: die Totalität einer voll­kommen gerechten Gesell­schaft, und begründet das mit einer Absicht der Natur und nicht des Menschen. Das ist möglich, weil er der Natur Vernunft zuspricht und sie zu einem Produkt des Geistes macht. Eines Geistes, der sich auf die Natur „zurück­pro­ji­ziert“5, um seine Forderung nach der Versöh­nung von Indi­vi­duum und Gesell­schaft, von Freiheit und Zwang, an eine idea­li­sierte Instanz adres­sieren zu können.Theodor W. Adorno: Ohne Leitbild. Parva Asthetica, Frankfurt am Main 1973, S. 31 ↩︎zitiert nach Adorno, Stich­worte, S. 30
↩︎
a.a.O. 36 ↩︎

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, Detail, ca. 1503 / 1504

Verstehe ich Adorno richtig, ist er der Ansicht, in Kants natur­be­fan­gener Versöh­nungs­ab­sicht spiegle sich die Dialektik des Fort­schritts. Der Fort­schritt ist Motor und Produkt zuneh­mender Natur­be­herr­schung und der Herr­schaft des Menschen über den Menschen, doch fördert er auch die Befreiung des Bewusst­seins aus dem Gefängnis der Tradition und stattet das Denken mit Kritik­fä­hig­keit aus, damit es die gesell­schaft­li­chen Wider­sprüche erkennen lernt und nach Möglich­keiten trachtet, sie zu über­winden.

Zur Erklärung bedient sich Adorno einer Metapher: „Mahnt das Bild der fort­schrei­tenden Mensch­heit an einen Riesen, der nach unvor­denk­li­chem Schlaf sich in Bewegung setzt, dann losstürmt und alles nieder­tram­pelt, was ihm in den Weg kommt, so ist doch sein unge­schlachtes Erwachen das einzige Potenzial von Mündig­keit“6. Mündig­keit meint, die Natur­be­herr­schung, der sich der Fort­schritt verdankt, darf nicht unser letztes Wort sein. Erst wenn der Riese, der den unge­zähmten Kapi­ta­lismus und die entfes­selte moderne Technik verkör­pert, stehen bleibt, kommt der Fort­schritt ans Ziel. Das ist mit dem Satz gemeint: der Fort­schritt ereigne sich dort, wo er ende.a.a.O. 37 ↩︎

Denn nun schritte nicht länger alles fort in dem Ganzen, sondern das Ganze selbst. Alle Unver­nunft, die sich zur globalen Natur­zer­stö­rung zusam­men­schloss, wäre erschöpft und es entwi­ckelte sich endlich die Mensch­heit weiter. Aber wohin? Zum Guten. Doch was ist gut? Kants voll­kom­mene Gerech­tig­keit? Selbst­ver­ständ­lich. Adorno schreibt, gut wäre sogar schon, wenn wir unsere Augen aufschlügen und das höchste Ziel allen Fort­schritts erkennen würden: die „Idee von Versöh­nung“7. Sie findet ihr Bild in Alten­bergs kind­li­cher Forderung nach einer Welt, in der alle ganz fein, ganz zart, ganz liebevoll sind.a.a.O. 34 ↩︎

Die Abgründe dieses Wunsches teilen sich mit, wenn man bereit ist zu verstehen, dass „erst im Zeitalter der Bombe (gemeint ist die Atombombe, GdB) ein Zustand zu visieren ist, in dem Gewalt überhaupt verschwände.“8 Adorno war überzeugt, dass der Geist nur im Durchgang durch die Hölle, durch die Entwick­lung mörde­ri­scher Tech­no­lo­gien, in die Lage versetzt werde, das Projekt einer versöhnten Mensch­heit tatkräftig anzugehen, statt sich mit reli­giösen Erlö­sungs­phan­ta­sien zu beruhigen. Und warum erst dann? Weil sich nach einem berühmten Marxschen Diktum der Überbau langsamer als der Unterbau umwälzt. Das Neue passiert, lange bevor wir es verar­beitet haben. Darum hinkt der Geist den gesell­schaft­li­chen Prozessen hinterher. Auch der Technik.a.a.O. 41 ↩︎

II
Dies lässt sich an Kunst und Archi­tektur gut ablesen, weil selbst dort aller Fort­schritt zual­ler­erst und in immer schnel­lerer Abfolge in Form neuer Methoden der Mate­ri­al­be­herr­schung auftritt, bevor es zum quali­ta­tiven Sprung kommt. Auch in den Künsten schreitet das Einzelne – Techniken des Kompo­nie­rens, Schrei­bens, Malens und Zeichnens – so lange fort, bis sich das Ganze, die Kunst­gat­tung (Musik, Tanz oder Literatur), endlich in Bewegung setzt. Aber worauf bewegt sie sich zu? Auf Versöh­nung? Auf Schönheit? Das war einmal. Die Moderne stellt an die Kunst offenbar den denkbar höchsten Anspruch: den auf Wahrheit.

Immer wenn Adorno davon spricht, was den Kunst­werken wesent­lich ist, ihr Gehalt, geht er davon aus, dass es sich um ihren Wahr­heits­ge­halt handelt. Empha­ti­sche Werke sprechen die Wahrheit aus über Mensch und Gesell­schaft. Nicht diskursiv wie die Philo­so­phie, sondern vermöge ihres mime­ti­schen Impulses derart, dass zum Zuge kommt, was den Begriffen entgeht. Begriffe bringen ein Allge­meines zum Ausdruck, das auf ein Beson­deres gemünzt ist. Im Akt des Begrei­fens wird es verstanden und geht doch auch verloren.

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, Detail, ca. 1503 / 1504

Ist der Wahrheit mit Wissen­schaft beizu­kommen? Adorno bezwei­felt es in Über­ein­stim­mung mit seinem Antipoden Heidegger. Mehr als im logischen Verstand ist Wahrheit in den Kunst­werken geborgen, da diese selber etwas Beson­deres sind. Auch als mit kaltem Verstand konstru­ierte und als Resultate des reif­lichsten Nach­den­kens ergreifen sie Partei für das, was unter die Räder der Objek­ti­va­tion zu kommen droht. Natürlich geht einem nicht leicht über die Lippen, was das sein könnte. Ich traue mich dennoch und sage, in der Kunst werden Konkre­tionen mannig­fa­chen Leidens und singu­lären Glücks erfahrbar.

Selbst sie sind durch tech­ni­schen Fort­schritt vermit­telt. Adornos ästhe­ti­sche Theorie war darin modern und vormodern zugleich, dass sie die Verfahren, die Archi­tekten und Künstler bei der Produk­tion ihrer Werke anwenden, ohne Umschweife als Technik beschrieb. Modern war dies, weil die Mehrheit seiner Philo­so­phen­kol­legen kreative Prozesse in der Kunst nicht mit Begriffen aus Alltag und Industrie beschmutzt sehen wollte. Tech­ni­schen Sach­ver­stand erhoffte man sich von Inge­nieuren, nicht von Künstlern, obschon beispiels­weise die Elek­tronik kaum weniger Einzug in die Neue Musik als in die Media­märkte gehalten hat.

Adorno regis­trierte die mit der modernen Technik verbun­denen ästhe­ti­schen Inno­va­tionen mit Interesse und Bedenken. Seine Skepsis war schuld, dass er den Begriff der Technik stets auch in vormo­derner Weise benutzte. Der Aufsatz „Musik und Technik“ (1958) beginnt mit den Worten: „Die grie­chi­sche Bedeutung des Wortes Technik verweist auf deren Einheit mit der Kunst.“9 So wie der Fort­schritt ambi­va­lent und ein Macht­in­stru­ment ist um des höheren Zweckes willen, Herr­schaft zu brechen, ist auch die Technik ambi­va­lent, da sie dem Kunstwerk innerlich und äußerlich zugleich ist, identisch und nicht-identisch ist mit seinem Gehalt.10 Technik stellt eine notwen­dige Bedingung von Kunst und Archi­tektur, darf mit ihnen aber nicht verwech­selt werden.Theodor W. Adorno: Musi­ka­li­sche Schriften I‑III. Gesam­melte Schriften Band 16, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt am Main 1978, S. 229 ↩︎Ebenda ↩︎

Als ich 2008 mit dem Begriff der enzy­klo­pä­di­schen Archi­tektur zeigen wollte, dass die Moderne nur zum Teil in die Archi­tektur einwan­dern konnte und zum andern Teil an ihr abprallen musste, weil es sonst keine Archi­tektur mehr geben würde – da hatte ich dies damit erklärt, dass Archi­tektur Kunst und Wissen­schaft zugleich sei.11 Richtiger wäre, sie eine técnh zu nennen.12 Was die Griechen darunter verstanden, ist nicht dasselbe, was wir meinen, wenn wir Technik sagen. técnh behauptet die Einheit von Kunst, Wissen­schaft und Handwerk, so wie dies die Archi­tektur tausende von Jahren prak­ti­ziert hat. Darum gibt’s ja auch keine Krise der Archi­tektur, die sie selbst verschuldet hat. Es ist vielmehr so, dass sie sich seit Anbruch der Moderne mit dem Problem konfron­tiert sieht, ob sie eine técnh bleiben kann oder nicht. Die Adorno-Lektüre macht darüber hinaus klar, dass die Archi­tektur in ihrer Front­stel­lung gegen die Moderne das Schicksal aller Kunst teilt, das da lautet: zuneh­mende Tech­ni­fi­zie­rung als Preis des Fort­schritts.Gerd de Bruyn: Die enzy­klo­pä­di­sche Archi­tektur. Zur Refor­mu­lie­rung einer Univer­sal­wis­sen­schaft, Bielefeld 2008 ↩︎Gerd de Bruyn: Scienza specu­la­tiva oder: Zur archi­tek­to­ni­schen Einheit von Wissen­schaft, Kunst und Technik, in: Jahrbuch 2012 der Braun­schwei­gi­schen Wissen­schaft­li­chen Gesell­schaft, Braun­schweig 2013, S. 234 ff.
↩︎

Der Fort­schritt gibt sich also auch in den Künsten als tech­ni­scher zu erkennen. Das muss man dann nicht bedauern, wenn, wie es oft der Fall ist, das technisch avan­cier­tere Kunstwerk das Stim­mi­gere ist. Falsch wäre, hieraus zu folgern, das Ausge­klü­gelte habe immer einen Vorteil gegenüber dem Schlichten. Das Simple verblüfft uns ja oft genug, und das Alte schlägt uns ohnehin in Bann, ob einfach oder kompli­ziert. Das zeigt sich, wenn wir in einer modernen Umgebung wie der Send­linger Straße in München auf eine 250 Jahre alte Kirche stoßen – von den Brüdern Asam – oder in einem noch älteren Gemäuer grego­ria­ni­scher Gesang an unsere Ohren dringt oder verblasste Fresken zu sehen sind, deren Schöpfer nur einen Bruchteil der Techniken beherrschte, über welche die nieder­län­di­schen Meister geboten.

Die Technik schreitet ja nicht nur voran und erschließt Neuland, sie verschüttet zugleich altes Terrain, wodurch viel Know How verloren geht. Sicher­lich liegt ein wichtiger Aspekt der Wieder­be­le­bung alter Techniken darin, dass wir uns ihrer so verge­wis­sern, dass sie nicht nur im Museum ihren Nieder­schlag finden, sondern ebenso in zeit­ge­nös­si­schen Werken. Der Kontra­punkt war so rasch vergessen, dass man schon fünfzig Jahre später auf Mittel und Wege sinnen musste, um ihn sich wieder aneignen zu können. Später zeigte sich, dass das letzte Wort über die polyphone Musik längst noch nicht gespro­chen war. Gleich­wohl wird man sich hüten, Verfahren wie Umkehrung, Spie­ge­lung und Krebs in Zwölf­ton­kom­po­si­tionen für legitimer zu halten als in barocken Fugen. Niemals wird man Schönberg über Bach stellen wollen (oder seinen Freund Adolf Loos über Fischer von Erlach).

III
Erinnern wir uns nochmals Adornos unge­schlachten Riesen, der als Verkör­pe­rung einer Natur zerstö­renden Technik verbrannte Erde hinter­lässt. Zu ergänzen wäre, dass er, obschon selber der Welt des Märchens entsprungen, die Tradition mit zertram­pelt. Die Prot­ago­nisten der modernen Bewegung bedau­erten das nicht. Im Unter­schied zu uns. Brauch­tums­pflege steht wieder hoch im Kurs. Eine Folge davon ist, dass wir in tradi­tio­na­lis­ti­schen Bauten ein schwer zu verschmer­zendes Ausein­an­der­treten von Technik und Gehalt regis­trieren. Dies kommt daher, dass an die Stelle eines gegen­warts­be­zo­genen Inhalts, der mit der zeit­ge­nös­si­schen Technik korre­liert, Vergan­genes tritt, das von den Wahr­heiten zeugen soll, die vom Fort­schritts­riesen verscheucht wurden.

Der Tradition haftet in der Moderne etwas von der Wieder­kehr des Verdrängten an. Umso mehr die Tech­ni­fi­zie­rung unserer Welt voran schreitet, desto häufiger begegnen wir tradi­tio­na­lis­ti­schen Reflexen. Zum Beispiel in Gestalt von Trach­ten­ver­einen oder Konzerten mit histo­ri­schen Instru­menten, die, obschon lange ausge­storben, wieder gebaut, gekauft und unter­richtet werden. Viele sind stolz auf histo­ri­sche Bauten, die, zerstört von Bomben oder Abriss­birnen, neu vor unseren Augen entstehen – manchmal an einem anderen Platz oder sogar in einer fremden Kultur. Recht besehen immer in einer fremden Kultur, da mit dem Abriss alter Bauten auch unser Bezug zu den Lebens­welten abriss, denen sie Raum boten. Aus diesem Grund darf man getrost behaupten, dass wir Europäer Gotik oder Barock nicht näher stehen als Ameri­kaner und Chinesen, zumal die Popkultur Züge eines globa­li­sierten Rokoko trägt.

Immerhin: das rekon­stru­ierte Berliner Schloss soll in Berlin zu stehen kommen. Wird es sich mit der gleichen Konse­quenz an die Stelle des Fort­schritts setzen, wie dieser die Tradition verdrängte? Dumme Frage – natürlich nicht und wenn, dann nur dem Scheine nach, da der Fort­schritt, reduziert auf Technik und Ökonomie, stets Herr aller Verfahren bleibt. Gleich­wohl ist in ihm eine Leer­stelle entstanden, die von der Tradition besetzt werden kann, aber nur deshalb, weil wir das höchste Ziel des Fort­schritts, „die Idee der Versöh­nung“, aus den Augen verloren haben. Deshalb macht es uns ja auch nichts aus, dass bei der Rekon­struk­tion „der guten alten Zeit“ Tradi­tionen und Tech­no­lo­gien aus verschie­denen Epochen aufein­an­der­prallen. Sie werden nicht mitein­ander versöhnt, sondern zusam­men­ge­bunden wie die Braut mit dem unge­liebten Bräutigam, der von ihren Eltern ausge­sucht wurde.

Wir haben trotz oder gerade wegen des Miss­trauens, mit dem die modernen Archi­tekten und Künstler auf die Tradition reagierten, eine positive Einstel­lung zum Histo­ri­schen gewonnen. Ja, wir sind nicht viel anders als die Menschen des 19. Jahr­hun­derts „Histo­risten“, wie man sowieso den Verdacht schwer los wird, dass die erste Hälfte des 20. Jahr­hun­derts das 18. und die zweite das 19. aktua­li­sierte, in dessen Kiel­wasser wir ziellos weiter treiben.

Was ist dieses Positive, das wir nun schon seit einigen Jahr­zehnten der Tradition abge­winnen? Zum einen sind es Bedürf­nisse und Erfah­rungen, die in der fort­ge­schrit­tenen Moderne keinen Platz finden – man könnte auch sagen, wir verge­wis­sern uns in Konven­tionen und Bräuchen unseres Unver­mö­gens, mit der Zeit zu gehen. Ich spiele damit auf kein indi­vi­du­elles Unver­mögen an, das man abstellen könnte, sondern auf das, was Günter Anders die Anti­quiert­heit des Menschen nannte, die seiner Anpassung an die Moderne eine Grenze zieht und gegen das rebel­liert, was er selber zu verant­worten hat – die aus dem Ruder gelaufene Technik.13 Zu ergänzen wäre: unsere Anti­quiert­heit blüht längst nicht mehr nur im Verbor­genen, sie hat ihr Ventil in der immer selbst­be­wusster auftrump­fenden Berufung aufs Tradi­tio­nelle gefunden.Günther Anders: Die Anti­quiert­heit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten indus­tri­ellen Revo­lu­tion, München 1980 ↩︎

Zum zweiten mani­fes­tieren sich in der Tradition nicht nur vormo­derne Formen der Unter­drü­ckung, obschon unbe­streitbar alles, was Tradition ausmacht, in Zeiten entstand, als die Menschen durch die Autorität der Kirche und abso­lu­tis­ti­scher Herrscher gegängelt wurden. Und dennoch: Tradi­tionen bergen Frei­heits­mo­mente. Auch das lässt sich wieder an der Kunst zeigen, deren Fort­schritt eine umge­kehrte Propor­tio­na­lität aufweist, da sich über die Jahr­hun­derte hinweg die Spiel­räume der ausfüh­renden Künstler in dem Maße einschränkten, in dem die Frei­heiten der anlei­tenden Künstler zunahmen.14Gerd de Bruyn: Was sind anlei­tende Künste?, in: ach. Ansichten zur Archi­tektur, Heft 43, 2010 S. 2–5 ↩︎

John Ruskin beschrieb diesen Umstand in den Steinen von Venedig im berühmten Kapitel „Das Wesen der Gotik“.15 Dort ergriff er Partei für den fröhlich gestimmten mittel­al­ter­li­chen Steinmetz, der, wie er sagt, mit großer Freiheit sein Material behaue und anein­an­der­füge. Im Unter­schied zum modernen Prole­ta­rier, der unter den Bedin­gungen entfrem­deter Arbeit noch größere Knecht­schaft erleide als der antike Sklave. Der gotische Hand­werker verdient noch Künstler genannt zu werden, ein ausfüh­render, gewiss, der Fabrik­ar­beiter ist nicht mal das. Die ausfüh­renden Organe sind in der Moderne die Maschinen, welche präzise berech­nete Baustoffe produ­zieren, die bestens zu den Plänen von Archi­tekten passen, deren Angaben immer genauer sind. Wie die Partitur eines Kompo­nisten, der alles wichtig nimmt und alles notiert.John Ruskin: Steine von Venedig, Band II, hg. v. W. Kemp, Dortmund 1994, S. 184 ff. ↩︎

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, Detail, ca. 1503 / 1504

Durchs Radio erfuhr ich von einem Stück Karl-Heinz Stock­hausens, das sogar Körper­hal­tung und Mimik der ausfüh­renden Musiker festlegt. Das ist, so kurios es klingt, ein gutes Beispiel für den Fort­schritt in der Kunst: denn beide, Architekt und Komponist, möchten ihre Kompe­tenzen ständig erweitern und immer weniger davon an die abgeben, die bauen und musi­zieren. Deren Frei­heits­ver­luste werden auf dem Konto der modernen Kunst als Zugewinn ästhe­ti­scher Autonomie verbucht.

Tradi­tio­nelle Musik und Archi­tektur sind anders gepolt, weshalb die eine im Jazz, die andere im parti­zi­pa­to­ri­schen Bauen fröhliche Wieder­kehr feiert. Selbst­ver­ständ­lich geht damit ein Rückfall hinter den erreichten Stand des ästhe­ti­schen Materials einher, da man Regeln aktua­li­siert, die ihre Bedeutung längst eingebüßt haben. In den autonomen Künsten sehr schnell und in den zweck­ge­bun­denen Künsten kaum langsamer. Ihnen stand der Mythos des Funk­tio­na­lismus zur Seite, der propa­gierte, Archi­tektur sei keine Kunst, um unter dem Anschein ihrer Nütz­lich­keit die alten Regel­werke zu Fall zu bringen. Als es soweit war, unterwarf man das Bauen ebenso konse­quent einer ästhe­ti­schen Moder­ni­sie­rung wie die anderen Künste auch.

Loos hatte behauptet, die Menschen würden das moderne Haus lieben und die moderne Kunst hassen16, doch kam es anders: Die Menschen lehnten beides ab, da das Neue Bauen trotz des Funk­tio­na­lis­mus­ge­bots so unzu­gäng­lich wirkte wie „abstrakte Kunst“. Der Zorn, der aufkam, als man die Finten der Moder­nisten durch­schaute, wiegte die Post­mo­der­nisten im Glauben, man könnte die Gegen­ständ­lich­keit in der Malerei, die Tonalität in der Musik und die Tektonik in der Archi­tektur wie einen unvor­sich­tigen Spazier­gänger reani­mieren, den man aus dem Wannsee gezogen hat. Eines ist immerhin richtig: wir sehen die moderne Archi­tektur, die sich als Statt­halter des Fort­schritts gebärdete, nicht mehr am Ende der Entwick­lung, die Giedion in „Space, Time, Archi­tec­ture“ aufge­zeigt hat, sondern in einer Reihe gleich­be­rech­tigter stilis­ti­scher Möglich­keiten.Adolf Loos: Trotzdem 1900 – 1930, hg. v. A. Opel, Wien 1981, S. 101 ↩︎

Man erinnert sich: Giedion hatte seinen Best­seller im Unter­titel „Die Entste­hung einer neuen Tradition“ genannt. Trotzdem er Sekretär der CIAM war, gefiel es ihm nicht, die moderne Archi­tektur zum gloriosen Ende der Bauge­schichte zu erklären. Als Kunst­his­to­riker und Schüler Wölfflins wusste er, die Geschichte würde weiter­gehen, und als gelernter Maschi­nen­bauer war ihm klar, dass auch der tech­ni­sche Fort­schritt die Archi­tektur seiner Wegge­fährten über­rennen würde. Um ihnen dennoch eine heraus­ra­gende Rolle zuzu­bil­ligen, feierte er Mies van der Rohe, Gropius und Le Corbusier als Begründer einer „neuen Tradition“ und hoffte durch den Wider­spruch, der sich darin ausdrückt, der Zerris­sen­heit seiner Zeit begegnen zu können.

IV
Ein Gedan­ken­gang ist noch nicht abge­schlossen. Es geht um das Frei­heits­ver­spre­chen tradi­tio­neller Kunst. Das Korsett ihrer Regeln legten die modernen Künstler ab, um nach Luft zu schnappen. Aber das galt eben nicht für alle. Manche trugen es weiter, weil es Sicher­heit bot für ihre Art der Entfal­tung. Es wäre ja der Spielwitz einer Jazz-Combo ebenso zum Absturz verur­teilt wie die Impro­vi­sa­ti­ons­freude eines Orga­nisten ohne das Auffang­netz der alten Stufen­har­monik. Für das Bauen gilt das Gleiche. Nicht nur Ruskins Steinmetz genoss Frei­heiten. Auch die alten Archi­tekten bewegten sich souverän innerhalb der antiken Propor­ti­ons­re­geln und Säulen­ord­nungen und machten aus drei Ordnungen vier, fünf und mehr.

Die tradi­tio­nelle Ästhetik offeriert Freiräume auf einem umzäunten Schulhof, der Platz für indi­vi­du­elle Deutungen bietet, die noch Venturis pummelige Säule im Oberlin-College einbe­greifen. Vor wenigen Jahren lebte gar die Schön­heits­de­batte wieder auf. Von den Rhein­ter­rassen nahm sie ihren Anlauf, und so mancher wird unken, wäre sie doch in Düssel­dorf geblieben, da schon das 19. Jahr­hun­dert sie unter sich begraben hatte. Aber was heißt das schon? Alles, was lange vorbei ist, harrt in der Moderne seiner Chance, wieder­ent­deckt zu werden. Für diesen Mecha­nismus haben wir ein Wort: Mode. Sie ändert freilich nichts daran, dass die Subjek­ti­vie­rung der Kunst die Autorität der Regeln auf die Auto­ri­sie­rung des Künstlers verlagert hat. Modernen Autoren liegen wir zu Füßen oder miss­trauen ihnen zutiefst und beides aus gleichem Grund: weil sie die Regeln, nach denen sie verfahren, selbst aufge­stellt haben. Ihre Autonomie imponiert und ist ein Skandal. Darum waren moderne Archi­tektur und Kunst von Anfang an umstritten.
Ich sagte, in der Besinnung auf Tradition komme uns zweierlei zu Bewusst­sein: die Eigen­schaften des Gattungs­wesen Mensch, die sich dem Fort­schritt verwei­gern, und verlorene Frei­heiten.

Es kommt noch ein Drittes dazu: die soziale Soli­da­rität vormo­derner Künst­ler­kol­lek­tive. Warum koket­tierte das Weimarer Bauhaus mit einer Wieder­ge­burt der gotischen Bauhütte? Weil in den alten Geheim­bünden Vorboten einer versöhnten Mensch­heit vermutet wurden. Selbst­ver­ständ­lich war die künst­le­ri­sche Krea­ti­vität auf das moderne Indi­vi­duum über­ge­gangen und ins Geniale gestei­gert worden, doch nur, damit sie von dort wieder den Weg zurück in die Gesell­schaft finden sollte. Ganz im Sinne Alten­bergs, der schrieb: „Der ‚Einzige’ sein, ist wertlos, eine armselige Spielerei des Schick­sals mit einem Indi­vi­duum. Der ‚Erste’ sein ist alles! … er weiß, die ganze Mensch­heit kommt hinter ihm!“17zitiert nach Adorno, Stich­worte, S. 38 ↩︎

Kommt sie wirklich hinter ihm? Bisher scheint es nicht der Fall, oder nur in einer Weise, die schwer zu akzep­tieren ist, sofern man der Meinung ist, die Mensch­heit halte sich im Internet versteckt, das die großen Autoren verschmäht und die kleinen zu Wort kommen lässt. Glück­li­cher­weise wollen sich nicht alle am äthe­ri­schen Gemurmel betei­ligen, da sie den Verdacht hegen, dass die Botschaften, die das twit­ternde Massen­sub­jekt verbreitet, weit hinter die Inhalte zurück­fallen, wofür die alten Kunst­kol­lek­tive einstanden.
In unseren Tagen scheint das moderne Subjekt so geschichts­be­geis­tert wie geschichts­ver­lassen. Das wie die Polkappen abschmel­zende Bildungs­bür­gertum redet mit ähnlicher Begeis­te­rung der Geschichte das Wort wie das Massen­pu­blikum auf dem Münchner Okto­ber­fest sich in seiner Trach­ten­kos­tü­mie­rung gefällt.

Beide Male geht es um Bildung. Die einen verlieren sie, die andern nehmen sie in kleinsten Dosen zu sich. Während sich diese Umver­tei­lung geistiger Privi­le­gien vollzieht, steuern wir alle, ob als Intel­lek­tu­elle mit histo­ri­schen Romanen unterm Arm, als Inge­nieure mit Perry-Rhodan-Heftchen oder Betriebs­wirt­schaft­le­rinnen mit Fantasies im Gepäck auf einen gemein­samen Knoten­punkt zu. Er ist unsere Zukunft, in der leere Köpfe mit allwis­senden Maschinen inter­agieren. Leer werden die Köpfe sein (obschon bis zum Bersten voll gestopft mit über­flüs­sigen Daten18), weil bis dahin die mangelnde Urteils­kraft der Maschinen auf die Menschen über­ge­gangen sein wird. Statt von Maschinen könnte ich auch von Drohnen sprechen, da es vermut­lich hand­lungs­theo­re­tisch egal ist, ob wir ein Spiel­zeug­schiff­chen fern­steuern oder mit Bomben bestückte unbe­mannte Flugzeuge, die im Jemen oder in Pakistan Menschen töten.Bereits Platon hat im Phaidros ausge­spro­chen, was von der Ansamm­lung großer Daten­mengen in mensch­li­chen Köpfen zu halten ist: „indem sie nun vieles gehört haben ohne Unter­richt, werden sie sich auch viel­wis­send zu sein dünken, obwohl sie doch unwissend größ­ten­teil sind und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkel­weise geworden sind statt weise.“ (Platon, Werke. Band 5, hg. v. G. Eigler, Darmstadt 1981, S. 177) ↩︎

Da letzteres offenbar auch von Stutt­garter Boden aus passiert, dieser urbanen Idylle, in der die Rebhänge bis in den Stadtkern ragen, wäre es ein hoff­nungs­voll stim­mendes Zeichen, wenn wenigs­tens ein Teil der gegen Stuttgart 21 protes­tie­renden Bürger gegen diesen unver­gleich­lich schlim­meren Verstoß gegen die Mensch­lich­keit aufbe­gehren würde, der ja auch im Namen des Fort­schritts geschieht. Die Drohnen stehen für die Progres­si­vität des Westens, die von der regres­siven Welt­an­schauung des Islam bedroht wird. Und von der Hybris der Russen, die mit ihren ille­gi­timen Hege­mo­nie­an­sprü­chen die legitime Osterwei­te­rung der EU behindern. Und von der Unver­nunft der Chinesen, ein Anrecht auf Inseln zu äußern, die ihrem Land vorge­la­gert sind. Um sich vor Augen zu führen, was da gerade passiert, muss man sich bloß vorstellen, die USA und Kanada würden sich um Prince Edward Island streiten und die Chinesen befehlen einen ihrer Flug­zeug­träger dorthin…

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, Detail, ca. 1503 / 1504

Die avan­cierte Mili­tär­technik des Westens steht für einen Fort­schritt, der nicht die Zivi­listen in den Einsatz­ge­bieten schont, sondern die Nerven von Piloten, die an Kriegs­spiel­kon­solen sitzen und das Unheil, das sie anrichten, nicht mit ansehen müssen. Das ist schon deshalb clever, weil sie so von den Traumata der Soldaten vor Ort verschont bleiben, die lang­wie­rige und kost­spie­lige Behand­lungen nach sich ziehen.
Tief in uns verborgen haust die Ahnung, dass wir schon zu lange am Outsour­cing der aggres­siven, unap­pe­tit­li­chen und unöko­no­mi­schen Aspekte des Fort­schritts profi­tieren. Wir alle sind an dieser Entwick­lung mitschuldig: auch die Hoch­schul­lehrer, die sich aus der Lehre in eine Forschung abdrängen lassen, die in die Abhän­gig­keit der Industrie geraten ist. Inzwi­schen sogar der Rüstungs­in­dus­trie und Mili­tär­po­litik.19 Mitschuldig werden auch Archi­tekten, die sich nötigen lassen, ihre Kunst zum Geschäft zu machen und den anonymen Verflech­tungen von Macht, Kapital und Mili­tär­technik mit ihrer Ästhetik der Undeut­lich­keit Vorschub leisten, die auf der Ideologie der Neutra­lität basiert.tages​schau​.de meldete am 25.11.2013 unter der Über­schrift ‚Pentagon finan­ziert deutsche Forschung‘: „Das US-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rium hat in den vergan­genen Jahren mit mehr als zehn Millionen Dollar Projekte an 22 deutschen Hoch­schulen finan­ziert, teils für Grund­la­gen­for­schung, teils für Rüstungs­for­schung. Dabei sind auch Univer­si­täten, die sich fried­li­cher Forschung verpflichtet haben.“ http://​www​.tages​schau​.de/​i​n​l​a​n​d​/​u​s​m​i​l​i​t​a​e​r​s​h​o​c​h​s​c​h​u​l​e​n​1​0​0​.​h​tml ↩︎

Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich mal zu dem Satz fort­reißen lassen würde, dass ein einschüch­terndes Gerichts­ge­bäude der wilhel­mi­ni­schen Klas­sen­justiz ehrlicher ist als die dezent bis heiter gestimmten Fassaden unserer Zeit. Gäbe es so wie im Kino auch in der Bauwirt­schaft eine frei­wil­lige Selbst­kon­trolle, dürfte die Begegnung mit zeit­ge­nös­si­schen Häusern beden­kenlos ab sechs Jahren frei­ge­geben werden, egal, ob in ihnen die NSA spioniert, große Koali­tionen ausge­heckt oder Waffen herge­stellt werden. Man sieht es ja nicht.

Unsere Hände sind kaum weniger befleckt als die der Politiker und Militärs, die in unserem Namen handeln. Das Blut der Stachel­draht­zäune klebt daran, die den von Hunger, Drohnen und Bürger­kriegen verfolgten Afri­ka­nern den Weg nach Europa versperren. Und wir stehen in Kumpanei mit Frontex, der Agentur für die operative Zusam­men­ar­beit an den Außen­grenzen Europas, die den Flücht­lingen, die zu weit gekommen sind, ein nasses Grab im Mittel­meer bereitet. Von 6, 2 Millionen Euro im Jahre 2005 wuchs der Haushalt dieser obskuren Agentur in nur fünf Jahren auf 88 Millionen Euro an. Wir bessern unter der Hand mit Steu­er­gel­dern deren Budget ständig auf, um ande­rer­seits immer laut­stärker mit Amnesty und Pro Asyl gegen Menschen­rechts­ver­let­zungen zu protes­tieren, die an Europas Grenzen geschehen. Das ist so absurd wie die Tatsache, dass unsere Tierliebe mit der Größe der Schlacht­höfe zunimmt.

Ich weiß: es ist nicht fair, einen Beitrag über Archi­tektur so bitter enden zu lassen. Mir ist auch nicht besonders wohl dabei, auch fühle ich mich nicht dazu berufen. Doch leider gibt es für ein Fort­schritts­re­ferat keinen versöhn­li­chen Schluss. Nicht in unserer Zeit. Es ist die Verstri­ckung unseres Wohl­stands in ein Unrecht, das hier und fern von uns geschieht, die verhin­dert, dass der Fort­schritt endet, um sich zu ereignen. Und die ebenfalls verhin­dert, dass die Archi­tektur fein und der Mensch liebevoll wird.20Der Grad der Unwis­sen­schaft­lich­keit, der dieser Aussage anhaftet, zeigt den Grad an, in dem Wissen­schaft sich entmensch­licht hat. Kultur­kritik ist für die einen roman­ti­scher Unfug, für andere eine Wider­stands­form gegen die gras­sie­rende Betriebs­blind­heit forschender Kolle­ginnen und Kollegen. ↩︎

Prof. Dr. Gerd de Bruyn studierte Literatur- und Musik­wis­sen­schaft und war Gast­stu­dent in der Archi­tek­tur­klasse der Frank­furter Städel­schule bei Günter Bock. 1984 gründete er zusammen mit Berthold Reßler und Robert March das Archi­tek­tur­team AAM. De Bruyn war Chef­re­dak­teur der „Baukultur“ (DAI) und von 1997 bis 2000 Vertre­tungs­pro­fessor für Archi­tektur- und Städ­te­bau­theorie an der Kunst­hoch­schule Berlin-Weißensee. Seit 2001 ist er Professor für Archi­tek­tur­theorie und Leiter des Instituts Grund­lagen moderner Archi­tektur und Entwerfen (IGMA) der Univer­sität Stuttgart. Gerd de Bruyn ist Mitglied im Redak­ti­ons­beirat dieser Zeit­schrift, er lebt und arbeitet in Tübingen und Stuttgart.

  1. Adorno schreibt wörtlich: „der Fort­schritt ereignet sich dort, wo er endet“, und zitiert eine Seite später aus einer Auswahl der Texte Peter Alten­bergs, die Karl Kraus besorgte: „Alle Menschen werden einst ganz fein, ganz zart, ganz liebevoll sein“. (in: Theodor W. Adorno: Stich­worte. Modelle 2, Frankfurt am Main 1970, S. 37,38) ↩︎
  2. a.a.O. 35 ↩︎
  3. Theodor W. Adorno: Ohne Leitbild. Parva Asthetica, Frankfurt am Main 1973, S. 31 ↩︎
  4. zitiert nach Adorno, Stich­worte, S. 30
    ↩︎
  5. a.a.O. 36 ↩︎
  6. a.a.O. 37 ↩︎
  7. a.a.O. 34 ↩︎
  8. a.a.O. 41 ↩︎
  9. Theodor W. Adorno: Musi­ka­li­sche Schriften I‑III. Gesam­melte Schriften Band 16, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt am Main 1978, S. 229 ↩︎
  10. Ebenda ↩︎
  11. Gerd de Bruyn: Die enzy­klo­pä­di­sche Archi­tektur. Zur Refor­mu­lie­rung einer Univer­sal­wis­sen­schaft, Bielefeld 2008 ↩︎
  12. Gerd de Bruyn: Scienza specu­la­tiva oder: Zur archi­tek­to­ni­schen Einheit von Wissen­schaft, Kunst und Technik, in: Jahrbuch 2012 der Braun­schwei­gi­schen Wissen­schaft­li­chen Gesell­schaft, Braun­schweig 2013, S. 234 ff.
    ↩︎
  13. Günther Anders: Die Anti­quiert­heit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten indus­tri­ellen Revo­lu­tion, München 1980 ↩︎
  14. Gerd de Bruyn: Was sind anlei­tende Künste?, in: ach. Ansichten zur Archi­tektur, Heft 43, 2010 S. 2–5 ↩︎
  15. John Ruskin: Steine von Venedig, Band II, hg. v. W. Kemp, Dortmund 1994, S. 184 ff. ↩︎
  16. Adolf Loos: Trotzdem 1900 – 1930, hg. v. A. Opel, Wien 1981, S. 101 ↩︎
  17. zitiert nach Adorno, Stich­worte, S. 38 ↩︎
  18. Bereits Platon hat im Phaidros ausge­spro­chen, was von der Ansamm­lung großer Daten­mengen in mensch­li­chen Köpfen zu halten ist: „indem sie nun vieles gehört haben ohne Unter­richt, werden sie sich auch viel­wis­send zu sein dünken, obwohl sie doch unwissend größ­ten­teil sind und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkel­weise geworden sind statt weise.“ (Platon, Werke. Band 5, hg. v. G. Eigler, Darmstadt 1981, S. 177) ↩︎
  19. tages​schau​.de meldete am 25.11.2013 unter der Über­schrift ‚Pentagon finan­ziert deutsche Forschung‘: „Das US-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rium hat in den vergan­genen Jahren mit mehr als zehn Millionen Dollar Projekte an 22 deutschen Hoch­schulen finan­ziert, teils für Grund­la­gen­for­schung, teils für Rüstungs­for­schung. Dabei sind auch Univer­si­täten, die sich fried­li­cher Forschung verpflichtet haben.“ http://​www​.tages​schau​.de/​i​n​l​a​n​d​/​u​s​m​i​l​i​t​a​e​r​s​h​o​c​h​s​c​h​u​l​e​n​1​0​0​.​h​tml ↩︎
  20. Der Grad der Unwis­sen­schaft­lich­keit, der dieser Aussage anhaftet, zeigt den Grad an, in dem Wissen­schaft sich entmensch­licht hat. Kultur­kritik ist für die einen roman­ti­scher Unfug, für andere eine Wider­stands­form gegen die gras­sie­rende Betriebs­blind­heit forschender Kolle­ginnen und Kollegen. ↩︎
Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504
Hiero­nymus Bosch, Der Garten der Lüste, Tripty­chon, Detail, ca. 1503 / 1504