Globale Wander­schaften

Der Blick der Gegenwart, der eine plötz­liche Flut von Migranten und Flücht­lingen wahr­zu­nehmen scheint, täuscht, zumindest teilweise: Migration war und ist immer selbst­ver­ständ­li­cher Bestand­teil des städ­ti­schen Alltags. Einwan­de­rung und Abwan­de­rung sind elemen­tare Kompo­nenten der Gesell­schaft und zugleich Poten­tiale für ihre Weiter­ent­wick­lung. Dass die global sichtbare Verun­si­che­rung der Lebens­be­din­gungen des Menschen zu immer neuen Migra­tions- und Flucht­wellen führen wird, ist absehbar. Insofern wird es sinnvoll sein, das vermeint­lich Besondere als das Normale zu begreifen, und die in Zukunft wohl weiter wachsende Zahl der Zuwan­derer als Gege­ben­heit zu akzep­tieren, an die sich insbe­son­dere unsere Städte anpassen müssen.

Städte sind auch weiterhin der wesent­liche Schau­platz der Aushand­lung von Inter­essen. Das Städ­ti­sche hat sich schon immer durch Vielfalt und unter­schied­liche Wert­vor­stel­lungen definiert. Mit fort­schrei­tender Mischung der Bevöl­ke­rung wird es indes immer schwerer, „Kultur“ als geschlos­senen Zusam­men­hang zu defi­nieren. Der viel­be­schwo­rene Begriff einer „Trans­kul­tu­ra­lität“ harrt – ähnlich wie die frühere Rede von einer „multi­kul­tu­rellen Gesell­schaft“ – immer noch seiner Einlösung. Soll dies mehr als ein Schlag­wort werden, muss sich „Inte­gra­tion“ in einer anderen Weise auswirken als durch kurz­le­bige Leucht­turm­pro­jekte und sicher­lich gut gemeinte künst­le­ri­sche Aktionen. Neben den Umbau der Stadt und ihrer Quartiere muss ein Menta­li­täts­wandel treten, der Respekt und Empathie mehr Gewicht gibt als indi­vi­du­ellem Empfinden und ökono­mi­schem Denken. Ob das gelingen kann?

Annette Rudolph-Cleff, Andreas Denk

 

Unab­hängig von der Einlösung abstrakter Begriffe wie „Migra­ti­ons­hin­ter­grund“, „Inte­gra­tion“ und „Trans­kul­tu­ra­lität“ sind die persön­li­chen Geschichten, die sich hinter diesen Schlag­worten verbergen, höchst unter­schied­lich. Wie sehr wir dazu neigen, diese Unter­schiede zu verall­ge­mei­nern und dabei die indi­vi­du­elle Historie ausblenden, zeigen die Aufnahmen des Berliner Foto­grafen Maziar Moradi, die wir auf den Seiten 16 bis 61 jeweils auf einer Doppel­seite abbilden. Moradi erzählt in seiner Serie „Ich werde deutsch“ Geschichten von jungen Migran­tinnen und Migranten unter­schied­li­cher Herkunft, die in Deutsch­land ein neues Leben anfingen, nachdem sie ihre Heimat verließen. Dafür hat der von der Robert Morat Galerie vertre­tene Fotograf konkrete Erzäh­lungen gesammelt, die die Erfah­rungen beim Versuch des Neuauf­baus eines Lebens hier­zu­lande verar­beiten. Bühnen­gleich setzt Maziar Moradi diese Geschichten für seine Bilder in Szene, verzichtet dabei aber auf jeglichen Kommentar. So spannen die Foto­gra­fien einen Raum auf, in dem sich Fragen nach den Hinter­gründen ebenso ergeben wie nach der Perspek­tive der Akteure und der tatsäch­li­chen Bedeutung all jener Begriffe rund um das Thema „Migration“. Zur Serie ist ein Katalog im Kettler Verlag erschienen.

David Kasparek

Foto: Maziar Moradi