Infra­struktur als Lebens­grund­lage

Ein Basis­thema

Der Architekt, Stadt­planer und Vorstands­vor­sit­zende der Bundes­stif­tung Baukultur, Reiner Nagel, berichtet aus dem Baukul­tur­be­richt „Infra­struk­turen“ (2024 / 2025): Infra­struktur ist die Basis unseres Zusam­men­le­bens, es geht um die Grund­lagen unserer Gesell­schaft, die die Bürge­rinnen und Bürger als Steuer- und Gebüh­ren­zah­lende genauso betreffen wie jene, die für die gebaute Umwelt Verant­wor­tung tragen. Unsere Gebäude sind die lang­le­bigsten Elemente unserer zivi­li­sa­to­ri­schen Umwelt – noch lang­le­biger jedoch sind die Infra­struk­turen unserer Städte und Gemeinden: Rohr­lei­tungen, Straßen, Wege und Plätze, Stadt­mauern oder zentrale Bauwerke der kirch­li­chen oder welt­li­chen Macht. Ein Para­dig­men­wechsel ist angesagt, sowohl was die tech­ni­sche, aber auch die soziale Infra­struktur wie Biblio­theken, Museen oder Kran­ken­häuser, betrifft.

„Infra­struk­turen sind elementar“. Mit diesem Satz beginnt der aktuelle Baukul­tur­be­richt, der den Para­dig­men­wechsel und den zivi­li­sa­to­ri­schen Prozess für die notwen­dige Trans­for­ma­tion unserer Infra­struktur einleiten soll. Gleich­zeitig eröffnet der Baukul­tur­be­richt 2024 / 25 einen neuen Blick auf Infra­struk­tur­bauten als Träge­rinnen von Daseins­vor­sorge und Gemein­wohl, bei denen nicht nur ihr Vorhan­den­sein, ihre Beschaf­fen­heit und Funk­tio­na­lität, sondern auch ihre Gestal­tung und Sozi­al­raum­ori­en­tie­rung ausschlag­ge­bend für unsere Standort- und Lebens­qua­lität sind. „Infra­struk­turen prägen Räume“ war daher das Leitthema des dies­jäh­rigen Konvents der Baukultur. Ein Spezi­al­thema? Nein, eher das Basis­thema einer Baukultur des Öffent­li­chen. Infra­struk­tur­bauten bilden mehr als die Hälfte des Bauge­sche­hens in Deutsch­land ab und finden doch häufig nur als Rand­er­schei­nung im Aufga­ben­profil von Archi­tek­tinnen und Archi­tekten statt. Das war nicht immer so und muss sich wieder ändern, wenn wir Infra­struk­turen als die entschei­dende Stell­schraube zur Verbes­se­rung unserer Lebens­grund­lagen begreifen. Infra­struk­turen sind stärker noch als allge­meine Fragen der Gestal­tung unserer Umwelt und weit vor Baukultur im Allge­meinen im öffent­li­chen Bewusst­sein. Verkehrs- oder Mobi­li­täts­fragen bis hin zum Parken sind häufig die wich­tigsten Themen in der Lokal­presse und klas­si­sche Aufreger am Stamm­tisch. Die Bevöl­ke­rungs­um­frage zum Baukul­tur­be­richt bestätigt dies. Etwa zwei Drittel der Bürge­rinnen und Bürger sehen großen oder sogar sehr großen Hand­lungs­be­darf bei Verkehrs­in­fra­struktur, Tele­kom­mu­ni­ka­tion oder Gesund­heits­ein­rich­tungen. Aber auch mehr als die Hälfte sieht Defizite bei Bildungs­ein­rich­tungen wie Schulen oder Univer­si­täten, und rund ein Drittel moniert bauliche Mängel von Kultur­ein­rich­tungen.

Das aktuelle KfW-Kommu­nal­panel 2024 zeigt allein für die kommunale Infra­struktur einen Inves­ti­ti­ons­rück­stau von 186 Milli­arden Euro. Hinzu kommen Rück­stände bei Infra­struk­turen in Bundes- und Landes­zu­stän­dig­keit. Den Gesamt­in­ves­ti­ti­ons­be­darf bis 2030 schätzten das Institut für Makro­öko­nomie und Struk­tur­for­schung (IMK) und das Institut der Deutschen Wirt­schaft (IW) schon 2020 auf 457 Milli­arden Euro. Das ist mehr als der komplette Bundes­haus­halt eines Jahres – und ein Betrag, der sich kaum noch veran­schau­li­chen lässt. Er dürfte inzwi­schen sogar noch wesent­lich höher liegen und außerhalb dessen, was unsere Gesell­schaft und Politik derzeit bereit sind auszu­geben.

Sichtbar und konkret wird der Inves­ti­ti­ons­rück­stau überall da, wo Verbin­dungen wie die Rahmede-Talbrücke bei Lüden­scheid ausfallen, Bahn­ver­bin­dungen fehlen oder die Menschen vor geschlos­senen Schwimm­bä­dern und kaputten Aufzügen stehen. Infra­struktur ist die Basis unseres Zusam­men­le­bens. Es geht um die Grund­lagen unserer Gesell­schaft, die Bürge­rinnen und Bürger als Steuer- und Gebüh­ren­zah­lende genauso betrifft wie jene, die für die gebaute Umwelt Verant­wor­tung tragen. Häufig gibt es gerade bei der Zustän­dig­keit der Maßnah­men­tra­genden einen negativen Verant­wor­tungs­kon­flikt. Wenn nicht abweisbar, wird das Nötigste in der eigenen Zustän­dig­keit gemacht – einen Plan aber für das Ganze und seine Inte­gra­tion ins Umfeld gibt es häufig nicht. „Sind wir nicht“ ist deshalb bei vielen öffent­li­chen Bedarfs­trä­gern eine häufig gespro­chene Floskel mit Verweis auf andere. Für die Bevöl­ke­rung zählt aber das Ergebnis – und nicht, wer zuständig ist. Eine Lärm­schutz­wand mag für die Bahn auf Bundes­ebene eine eher unbe­deu­tende Baumaß­nahme sein, für die Menschen vor Ort ist sie ein massiver Eingriff in ihr Umfeld, für den ihre Gemeinde sich in der Regel aber gar nicht zuständig fühlt. Dieses Dilemma geteilter Verant­wor­tung darf nicht zu verant­wor­tungs­losem Bauen und gestalt­loser Infra­struktur führen. Hier, bei der archi­tek­to­ni­schen oder inge­nieur­bau­künst­le­ri­schen Gestal­tung von Inge­nieur­bau­werken, liegt auch einiges im Argen: 80 Prozent der Bevöl­ke­rung (also vier von fünf Befragten) finden, dass Infra­struk­tur­bauten gut gestaltet sein sollten. Gefragt, ob das derzeit der Fall ist, antwortet mehr als die Hälfte (55 Prozent) mit Nein. Für die Verant­wort­li­chen in Politik und Verwal­tung ist das eine schlechte Bilanz, die Hand­lungs­be­darf signa­li­siert.

Tech­ni­sche Infra­struktur ist dominant

Infra­struk­turen prägen Räume… es ist nicht egal, wie es aussieht. Zentrale Grafik des Baukul­tur­be­richts „Infra­struk­turen“ (2024 / 2025), Grafik: Bundes­stif­tung Baukultur, Design: Heimann + Schwantes

Gebäude werden hundert Jahre alt und älter und sind damit die lang­le­bigsten Elemente unserer auf Konsum und Wandel ange­legten zivi­li­sa­to­ri­schen Umwelt. Lang­le­biger sind aber noch die Infra­struk­turen unserer Städte und Gemeinden: Straßen, Rohr­lei­tungen, Wege und Plätze, (ehemalige) Stadt­mauern oder zentrale Bauwerke der kirch­li­chen oder welt­li­chen Macht. Sie sind in ihrer Lage und Form direkt der Topo­gra­phie und Morpho­logie des Ortes entliehen, den sie infra­struk­tu­rell einst aus der Natur zum Kulturort trans­for­mierten. Diese Erschlie­ßungs­in­fra­struk­turen über­dauern häufig sogar Stadt­er­neue­rungen nach Kriegen oder Bränden. Noch heute sind Straßen und Sied­lungs­grund­risse der Römerzeit in vielen Städten erkennbar. Klima­ti­sche und geolo­gi­sche Beson­der­heiten führen mittelbar durch die Infra­struktur zu regio­nalen Bauweisen. Christian Norberg-Schulz sprach in seinem Buch „Genius Loci. Land­schaft, Lebens­raum, Baukunst“ vom Wesen des Ortes, das sich durch die Identität und den Charakter des gebauten Raumes direkt in den be- und gelebten Sozi­al­raum trans­for­miert.

Die zentrale Grafik zum Baukul­tur­be­richt „Infra­struk­turen“ ist eine Collage von bekannten deutschen Bauwerken vorwie­gend der tech­ni­schen Infra­struktur, die zu einer Stadt­an­sicht arran­giert sind. Erster Gedanke: „Oh, das sieht ja inter­es­sant aus!“ Dann: „Das sind ja alles (tech­ni­sche) Infra­struk­turen!“ Es folgt die Erkenntnis: „Ist ja mehr und bedeu­tender als gedacht“ und „Vieles, was wir im Alltag übersehen, ist spannend“. Umgekehrt hat fast jede Stadt ihr ikono­gra­fi­sches Inge­nieur­bau­werk, das über seine Funk­tio­na­lität hinaus das Gemein­wesen baulich abbildet und für einen spezi­fi­schen Ort steht. Inge­nieur­bau­werke sind Teil unserer Kultur­land­schaft. Sie prägen unsere Alltags­räume, bewusst oder unbewusst, nicht nur durch ihre Funktion, sondern auch durch ihre Gestal­tung. Für den Baukul­tur­be­richt 2024 / 25 „Infra­struk­turen“ antwor­teten im Rahmen einer Bevöl­ke­rungs­be­fra­gung 56 Prozent der Personen auf die Frage, ob ihnen ein Inge­nieur­bau­werk einfalle, dass sie schön finden, mit ja. Meist­ge­nannt wurden hier Brücken, gefolgt von Fern­seh­türmen.

Trotz dieses hier grafisch unter­stützten Erkennt­nis­ge­winns gehört die Gestal­tungs­auf­gabe Infra­struktur aber keines­falls in die allge­meine Planungs­rou­tine oder genießt bauher­ren­seits hohe Akzeptanz. Viele Bedarfs­träger finden auch auf Seiten von Bürger­schaft und Politik häufig Zustim­mung für die Ansage, dass Kosten und Termine keines­falls durch die scheinbar höhere Komple­xität von Gestal­tungs­ver­fahren oder eine archi­tek­to­ni­sche Beglei­tung der Objekt­pla­nung gefährdet werden dürfen. Dabei sind dieje­nigen Beispiele zunehmend bekannt, bei denen quali­fi­zierte Gestal­tung Synergien für die Akzeptanz im Umfeld und die bessere, ergeb­nis­ori­en­tierte Zusam­men­ar­beit aller am Projekt Betei­ligten hebt. Dies bildet sich bei den Preis­tra­genden von Ingenieur- oder Städ­te­bau­preisen genauso ab, wie bei inter­na­tio­nalen Best Practice Beispielen – zum Beispiel in Form land­schafts­in­te­griert gestal­teter Lärm­schutz­wände in Südtirol oder offener Stadt­teil­schulen in Dänemark.

Schon ange­sichts hoher Inves­ti­tions- und Betriebs­kosten, aber auch wegen der baukul­tu­rellen Prägung von Infra­struk­tur­bau­werken, stellt sich deshalb in zuneh­mendem Maß die Frage nach der gesell­schaft­li­chen Verant­wor­tung, die Bauwerke der Infra­struktur (mit) über­nehmen können. Luigi Snozzis bekanntes, auf das Stadtbild zielende Zitat: „Wenn du ein Haus baust, denke an die Stadt“ können wir hier auf die gesell­schaft­liche Wirkung erweitern: „Wenn du Infra­struktur baust, denke an die Bedarfe der Stadt­be­woh­nenden“. Die Kien­les­berg­brücke in Ulm schafft über ihren verkehr­li­chen Zweck hinaus attrak­tive Aufent­halts­bal­kone mit Blick auf die Weite des Gleis­feldes. Das Rest­was­ser­kraft­werk in Kempten produ­ziert nicht nur Energie, sondern bietet den attrak­tiven, basti­ons­ähn­li­chen Standort für ein Café mit Sommerbar am Wasser. Mitdenken und ein offenes Angebot für die Stadt zu schaffen, nutzt hier allen und verschafft dem Maßnah­men­träger und dem Infra­struk­tur­bau­werk selbst einen Repu­ta­ti­ons­zu­wachs.

Auch bei der Anpassung an das künftig wärmere Klima und häufigere Extrem­wet­ter­er­eig­nisse spielen Infra­struk­tur­bau­werke die entschei­dende Rolle. Da ist zunächst die zuneh­mende Bedeutung eines vitalen Stadt­grüns, das durch Verduns­tung und Schatten kühlt und gleich­zeitig Defizite im Städtebau ausglei­chen kann. Aber auch die notwen­dige blaugrüne Infra­struktur zur Be- und Entwäs­se­rung unserer Siedlungs- und Verkehrs­flä­chen schafft neue Planungs- und Reali­sie­rungs­auf­gaben für inte­grierte Infra­struk­tur­bauten.

Supra­struktur als Kultur­folger der Infra­struktur denken

Es gibt aber auch die gegen­läu­fige Tendenz, dass die Gefäße und Elemente, die die bestehende Infra­struktur nutzen (Supra­struktur), immer größer und schwerer werden und die Infra­struktur heraus­for­dern. Gerade der Zoom-Faktor bei Fahr­zeugen (PKW und LKW) zielt auf den Bau breiterer Straßen, Brücken und Park­plätze, ohne dass diese Maßnahmen realis­ti­scher­weise und ohne massive Eingriffe in unsere Sied­lungen und Land­schaften machbar sind. Die natur­ge­setz­li­chen Auswir­kungen, die die wachsende Masse und Maße unserer Fahrzeuge auf die Infra­struk­turen haben, dürfen aber nicht alter­na­tivlos sein. Im Gegenteil: Sowohl die gesell­schaft­li­chen Folge­kosten, als auch die Restrik­tionen aus der gegebenen räum­li­chen Situation sprechen dafür, von der Infra­struktur als Basis auszu­gehen. Supra­struktur sollte daher im Grundsatz Kultur­fol­gerin der Infra­struktur sein und nicht umgekehrt. Das vermeidet häufig nicht nur enorme Kosten und massive Eingriffe in die bestehende Stadt, sondern gewähr­leistet an vielen Stellen die Rück­füh­rung auf das Grund­prinzip des mensch­li­chen Maßstabs, das vielen Infra­struk­turen bis heute anhaftet und sich im kollek­tiven Bewusst­sein abbildet und bewährt hat.

Bahnhöfe als Orte der Mobilität neu entdecken

Bahn­hofs­ge­bäude und Verkehrs­sta­tionen: Bei 14 Prozent der Bahnhöfe ist der Zugang zu den Gleisen nur durch das Bahn­hofs­ge­bäude möglich. Bei 30 Prozent der Bahnhöfe ist der Zugang zu den Gleisen sowohl durch das Bahn­hofs­ge­bäude als auch unab­hängig davon möglich. Bei 56 Prozent der Bahnhöfe funk­tio­niert der Zugang zu den Gleisen unab­hängig vom Bahn­hofs­ge­bäude. Quelle: Kommu­nal­um­frage zum Baukul­tur­be­richt 2024 / 25. Grafik: Bundes­stif­tung Baukultur, Design: Heimann + Schwantes

Ein beson­deres Kapitel im achtlosen Umbau mit der Infra­struktur des Bahn­ver­kehrs, trotz ange­strebter Mobi­li­täts­wende, stellen unsere Bahnhöfe dar. Ursprüng­lich als „Tempel der Bahn­mo­derne“, als Adressen, Ankunfts­orte und vermit­telnder Maßstab zwischen Mensch und Bahn gebaut, ist der Zugang zum Gleis durch den Bahnhof für die Bahn nur noch ein kosten­in­ten­sives und in den aller­meisten Fällen eher lästiges Anhängsel. Dabei sind Bahnhöfe nicht nur die Orte unserer erfolg­rei­chen und weiterhin zukunfts­fä­higen Schie­nen­mo­bi­lität. Sie gehören inzwi­schen zu den am stärksten frequen­tierten öffent­li­chen Gebäuden unserer Gesell­schaft. Kein Wunder also, wenn der Verdruss über die Leis­tungs­fä­hig­keit unserer Bahn­in­fra­struktur und die Klage über die Verschmut­zung und Unzu­läng­lich­keiten öffent­li­cher Räume immer mehr auch von den Bahnhöfen ausgeht. Immerhin hat die Politik reagiert und die Deutsche Bahn (ehemals Bundes­bahn) inzwi­schen umfir­miert zu einem gemein­wohl­ori­en­tierten öffent­li­chen Unter­nehmen: DB InfraGO. GO steht für Gemein­wohl­ori­en­tie­rung. Hier wäre es jetzt eine lohnende, nach vorne gerich­tete Offensive, aus Bahnhöfen wieder einla­dende Orte der Begegnung für Menschen zu machen.

Soziale Infra­struktur schafft Gemein­wohl

Nicht so unmit­telbar asso­ziativ wie bei der tech­ni­schen Infra­struktur funk­tio­niert das Begriffs­feld der sozialen Infra­struktur. Von Bildungs­bauten wie Schulen, Biblio­theken oder Univer­si­täten über Museen, Theater, Konzert­häuser oder Sakral­ge­bäude bis hin zu Rathäu­sern, Kran­ken­häu­sern oder Schwimm­bä­dern stellt das öffent­liche Bauen die soziale Infra­struktur für unser Zusam­men­leben und damit für unsere demo­kra­ti­sche Gesell­schaft dar. Hier sind in der Vergan­gen­heit häufig ambi­tio­nierte und hoch­wertig gestal­tete Bauwerke entstanden, die mehr noch als ihre eigene Funktion das Funk­tio­nieren der Gesell­schaft abbilden. Viel mehr als nach der bundes­weit drei­pro­zen­tigen Denk­mal­quote stehen diese Gebäude nach den Kate­go­rien der Landes­denk­mal­ge­setze zurecht häufig unter Denk­mal­schutz oder sind orts­bild­prä­gende Träger der Baukultur.

Ersatz­neu­bauten als kultu­reller Rück­schritt

Durch den zuneh­menden Sanie­rungs­rück­stau wird es nicht nur teurer, sondern auch technisch immer schwie­riger, den Bestand zu sanieren. Meist sehen die zustän­digen Stellen deshalb in Abriss und Neubau den einzigen Weg. Ersatz­neubau ist zur Regel geworden, zumal auch die öffent­li­chen Finan­zie­rungs­grund­lagen auf diese Praxis zielen. Mit dem Para­dig­men­wechsel zur neuen Umbau­kultur hat die Bundes­stif­tung schon im Baukul­tur­be­richt 2022 / 23 ein wichtiges Vorzei­chen für die Trans­for­ma­tion gesetzt. Auch bei Infra­struk­tur­bauten muss Umbau statt Abriss das Ziel sein. Wir müssen ihre graue Energie (die im Bauwerk gebun­denen CO2-Emis­sionen) genauso bewahren wie ihre goldene Energie, also die baukul­tu­relle, iden­ti­täts­stif­tende Kraft exis­tie­render Brücken, Bahnhöfe, Schulen oder Rathäuser. Entspre­chend dem Anteil an den Bauwerken, ist auch der Fußab­druck der Emis­sionen für die vorhan­dene Infra­struktur sehr hoch. Allein 34 Tonnen CO2 / Einwohner sind in der vorhan­denen tech­ni­schen Infra­struktur im Bereich Stra­ßen­ver­kehr, Wasser und Abwasser, Tele­kom­mu­ni­ka­tion und Ener­gie­ver­sor­gung gebunden – graue Energie, die es zu halten und weiter zu entwi­ckeln gilt.

Phase Null am Beispiel des Maßnah­men­trä­gers DB InfraGO Hamburg, Grafik: Bundes­stif­tung Baukultur, Design: Heimann + Schwantes

Baukultur ist auch Prozess­kultur. Nur sorg­fältig konzi­pierte und engagiert beglei­tete Entwick­lungs- und Planungs­ab­läufe, die auf Verbind­lich­keit zielen, können baukul­tu­rell anspre­chende Projekte garan­tieren. Deshalb ist es eine zentrale Aufgabe, alle Akteu­rinnen und Akteure des Planens und Bauens über Berufs­grenzen hinweg zur Zusam­men­ar­beit zu bewegen. Das beginnt mit der Phase Null, die das Planen und Bauen vorbe­reitet und für den Projekt­er­folg ausschlag­ge­bend ist. Bei Infra­struk­tur­pro­jekten eröffnet sie immense Chancen, Kosten zu sparen und Termine und gestal­te­ri­sche Qualität zu opti­mieren. Der frühe, umsich­tige und reflek­tierte Blick auf das Projekt­um­feld und den Makro­standort hilft, Kolli­sionen im weiteren Ablauf zu vermeiden. Wie nützlich die Phase Null gerade bei Infra­struk­tur­pro­jekten ist, die ja besonders vielen Regeln und Vorschriften gerecht werden müssen, zeigt das gemeinsam mit der DB InfraGO Hamburg entwi­ckelte Modell der Phase Null für die Erneue­rung von Eisen­bahn­brü­cken. Es geht darum, Hand­lungs­op­tionen zu erkennen und die kontex­tuell beste Lösung für Umfeld, Umwelt und Gesell­schaft zu reali­sieren.

Sollte Infra­struktur schön sein?

Bleibt nach so viel stich­hal­tigen Argu­menten für den Umgang mit der Masse die Frage nach der Klasse. Kann oder sollte Infra­struktur als umfas­sende Lebens­grund­lage angenehm auf uns wirken und sogar schön sein? Ja, aber das kann nur gelingen, solange sie keine eindi­men­sio­nale Ressort­maß­nahme darstellt oder lediglich zwei­di­men­sio­nale Flächen­pla­nung umfasst. Die Maßnah­me­n­ebene für Infra­struk­tur­bauten, die uns positiv beein­flussen kann, ist der Raum. Sobald drei­di­men­sio­nale Stadt­räume für Menschen entstehen, die eine Verbes­se­rung für sich und ihr Umfeld darstellen, kann Infra­struktur sogar einen entschei­denden Beitrag zur Lebens­qua­lität und Schönheit der Stadt darstellen. In Berlin beispiels­weise steht das Netz der Stra­ßen­räume (im ehema­ligen West­berlin) und der vernetzten Radialen (im ehema­ligen Ostberlin) an vielen Orten für die schöne Stadt und das öffent­liche Grün. Dimen­sio­nie­rung und Propor­tio­na­lität der Grün­der­zeit­straße durch Hobrecht und die nach­fol­genden Gene­ra­tionen von Inge­nieu­rinnen und Inge­nieuren folgen dabei inge­nieur­bau­künst­le­ri­schen Grund­sätzen.

Baukultur gewinnt als ganz­heit­li­ches Planungs­prinzip heute zunehmend an Bedeutung. Bezogen auf die Quali­täts­maß­stäbe der gebauten Umwelt bewährt sich ihr positiver Ziel­cha­rakter. Baukultur als Prinzip sollte daher in allen Planungs­ver­fahren syste­ma­tisch benannt und in der Bear­bei­tung gestärkt werden, gerade bei der Infra­struktur. Das kann konkret auch in Teilhabe-Prozessen und eben durch eine syste­ma­ti­sche Phase Null erfolgen.

Reiner Nagel ist Architekt und Stadt­planer, seit Mai 2013 Vorstands­vor­sit­zender der Bundes­stif­tung Baukultur. Zuvor war er seit 2005 Abtei­lungs­leiter in der Senats­ver­wal­tung für Stadt­ent­wick­lung Berlin für die Bereiche Stadt­ent­wick­lung, Stadt- und Frei­raum­pla­nung. Reiner Nagel hat seit 1986 in verschie­denen Funk­tionen auf Bezirks- und Senats­ebene für die Stadt Hamburg gear­beitet, ab 1998 in der Geschäfts­lei­tung der HafenCity Hamburg GmbH. Er ist Lehr­be­auf­tragter an der TU Berlin im Bereich Urban Design, Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landes­pla­nung, außer­or­dent­li­ches Mitglied des Bundes Deutscher Archi­tekten und Archi­tek­tinnen sowie Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg, Sektion Baukunst. 2022 wurde er in den Beirat Innen­städte des Bundes­mi­nis­te­riums für Wohnen, Stadt­ent­wick­lung und Bauwesen (BMWSB) berufen und ist seit 2022 zudem Stif­tungs­rats­vor­sit­zender der HSBK Hamburger Stiftung Baukultur.

Infra­struk­turen prägen Räume… es ist nicht egal, wie es aussieht. Zentrale Grafik des Baukul­tur­be­richts „Infra­struk­turen“ (2024 / 2025), Grafik: Bundes­stif­tung Baukultur, Design: Heimann + Schwantes
Bahn­hofs­ge­bäude und Verkehrs­sta­tionen: Bei 14 Prozent der Bahnhöfe ist der Zugang zu den Gleisen nur durch das Bahn­hofs­ge­bäude möglich. Bei 30 Prozent der Bahnhöfe ist der Zugang zu den Gleisen sowohl durch das Bahn­hofs­ge­bäude als auch unab­hängig davon möglich. Bei 56 Prozent der Bahnhöfe funk­tio­niert der Zugang zu den Gleisen unab­hängig vom Bahn­hofs­ge­bäude. Quelle: Kommu­nal­um­frage zum Baukul­tur­be­richt 2024 / 25. Grafik: Bundes­stif­tung Baukultur, Design: Heimann + Schwantes
Phase Null am Beispiel des Maßnah­men­trä­gers DB InfraGO Hamburg, Grafik: Bundes­stif­tung Baukultur, Design: Heimann + Schwantes