Klassik und Moderne

Die Entde­ckung der Moder­nität des japa­ni­schen Hauses

Es gehört zu den Mythen der Moderne, dass das Neue Bauen, wie es sich in den 1920er-Jahren entwi­ckelt hat, wichtige Impulse von der japa­ni­schen Archi­tektur erhalten habe. Dennoch ist es kaum von der Hand zu weisen, dass das tradi­tio­nelle japa­ni­sche Haus in Konzep­tion und formaler Behand­lung der Details Korre­spon­denzen mit der Archi­tektur der Moderne aufweist. Dazu gehört, dass es – bis auf den Dach­garten – Le Corbu­siers fünf Punkten der modernen Archi­tektur entspricht. Aber auch wenn das japa­ni­sche Haus aus vorge­fer­tigten Elementen besteht und modular aufgebaut ist: Seine Moder­nität konnte erst erkannt werden, nachdem die Prin­zi­pien des modernen Bauens im euro­päi­schen Kontext ausfor­mu­liert worden waren, so der Archi­tek­tur­theo­re­tiker Jörg H. Gleiter. Das erst öffnete den Prot­ago­nisten der Moderne die Augen für die Moder­nität des japa­ni­schen Hauses. Bis dahin hatten die modernen Archi­tekten wenig Interesse am japa­ni­schen Haus, für sie war es kaum mehr als eine Hütte.Zu Intro Fußnote fn‑1

  1. Der hier vorlie­gende Aufsatz verdankt einige Grund­lagen Manfred Speidel und seinen Arbeiten zum japa­ni­schen Haus. Eine ausführ­liche, längere Fassung des Aufsatzes findet sich unter: https://www.transcript-verlag.de/978–3‑8376–7531‑3/grundlagen-der-architekturtheorie‑i/

    ↩︎
Wohnhaus in Japan – Garten­an­sicht, Foto: Wasmuths Monats­hefte für Baukunst und Städtebau 6 (1921 / 1922), H. 7 / 8, S. 250 (gemein­frei)

Zum Miss­ver­ständnis der Rolle des tradi­tio­nellen japa­ni­schen Hauses in der Entwick­lung der modernen Archi­tektur mag eine Äußerung beigetragen haben, die Walter Gropius in seinem Aufsatz Archi­tec­ture von 1960 gemacht hat: „Ich hatte gefunden, wenn auch nur in Illus­tra­tionen, dass das alte hand­ge­fer­tigte japa­ni­sche Haus alle notwen­digen Merkmale für ein modernes Fertig­haus bereits hatte, nämlich modulare Koor­di­na­tion – die Stan­dard­matte, eine Einheit von circa 3’ × 6’ – und beweg­liche Wand­ta­feln.“1Der hier vorlie­gende Aufsatz verdankt einige Grund­lagen Manfred Speidel und seinen Arbeiten zum japa­ni­schen Haus. Eine ausführ­liche, längere Fassung des Aufsatzes findet sich unter: https://www.transcript-verlag.de/978–3‑8376–7531‑3/grundlagen-der-architekturtheorie‑i/ ↩︎

Tatsache aber ist, dass erst 1922 die ersten Bilder von einem japa­ni­schen Haus in Wasmuths Monats­hefte für Baukunst veröf­fent­licht worden sind, und das erste Buch über das japa­ni­sche Haus2, das auf breites Interesse gestoßen war, erst 1935 im Wasmuth Verlag erschienen ist. Der Autor war Yoshida Tetsuro (1894 – 1956). Im Westen waren bis dahin lediglich shin­tois­ti­sche Schreine wie der Ise-Schrein oder der Izumo-Schrein bekannt oder die reich verzierten und bunten Tempel wie der Tempel­be­zirk und das Mausoleum in Nikko oder die Phönix­halle des Byōdō-in (1053) in Kyoto. Der Byōdō-in war 1893 als Nachbau auf der Welt­aus­stel­lung in Chicago zu sehen. Bruno Taut, der 1933 nach Japan gegangen war, klas­si­fi­zierte die Tempel­an­lagen in Nikko pauschal als Kitsch ab.Tetsuro Yoshida (1935), Das japa­ni­sche Wohnhaus, Berlin: Ernst Wasmuth Verlag. ↩︎

Bis dahin galt das japa­ni­sche Haus als ein tradi­tio­nelles Haus, von dem keine Impulse für eine moderne, indus­tria­li­sierte Gesell­schaft ausgehen konnten. So war es auch ein Zoologe, Edward S. Morse (1838 – 1925), der 1886 mit Japanese Homes and Their Surroun­dings eine erste umfas­sende Darstel­lung der japa­ni­schen Kultur und des japa­ni­schen Hauses in engli­scher Sprache publi­zierte. Auch Das japa­ni­sche Haus, das erste deutsche Buch über die japa­ni­sche Archi­tektur, war 1903 nicht von einem Archi­tekten, sondern von dem Eisen­bahn­in­ge­nieur Franz Baltzer (1857 – 1927) verfasst worden.

Baltzer lebte in Tokio als Berater des Kaiser­li­chen Japa­ni­schen Verkehrs­mi­nis­te­riums. Im Gegensatz zu Morses ethno­lo­gi­schem Blick beschrieb Baltzer das japa­ni­sche Haus und den Lebens­alltag aus der Perspek­tive und mit der Sach­lich­keit eines Inge­nieurs. So bemän­gelte Baltzer dessen konstruk­tive Unzu­läng­lich­keit und die Verschwen­dung von Material, besonders aber das Unzeit­ge­mäße des japa­ni­schen Hauses, das mit alten, hand­werk­li­chen Holz­tech­niken erstellt wurde, wo doch Nägel und Schrauben, so Baltzer, weit ange­mes­sener, ökono­mi­scher, eben moderner wären. Baltzers Buch fand keine Beachtung und verschwand in den Archiven.

Wohnhaus in Japan – Kleines Empfangs­zimmer, Foto: Wasmuths Monats­hefte für Baukunst und Städtebau 6 (1921 / 1922), H. 7 / 8, S. 252

„Gradlinig, einfach und darum geschmack­voll“

Bezeich­nend ist, dass selbst die Archi­tekten, die Japan ab 1868, nach der Öffnung des Landes, besucht hatten, durchweg das Unmoderne des japa­ni­schen Hauses kriti­sierten. Zu ihnen zählte Hermann Muthesius (1861 – 1927), der zwischen 1887 und 1890 in Tokio als Architekt tätig war. Sein geringes Interesse für das japa­ni­sche Haus zeigt sich darin, dass er wohl ein umfang­rei­ches Werk, Das englische Haus (1904 / 05), veröf­fent­licht hat, sich aber, abgesehen von einer Rezension von Baltzers Buch im Zentral­blatt der Bauver­wal­tung, nicht zum japa­ni­schen Haus geäußert hat.

Mit den hand­werk­li­chen Konstrukti­onsmethoden, mit den Mate­ria­lien Holz, Reisstroh und Papier, aber auch mit den feudalen Gesell­schafts­ver­hält­nissen, die sich in ihm abbilden, stand das japa­ni­sche Haus außerhalb der Thematik der Moderne. Muthesius schrieb so auch, dass die „Auffas­sung des Ange­nehmen, Bequemen und selbst Zuträg­li­chen“3 des japa­ni­schen Hauses nicht mit den euro­päi­schen Bedürf­nissen vergleichbar sei. Muthesius spielte hier unter anderem auf die Tatsache an, dass im japa­ni­schen Haus fast alle Tätig­keiten auf dem Boden sitzend verrichtet werden.Hermann Muthesius (1903), Das japa­ni­sche Haus, in: Zentral­blatt der Bauver­wal­tung, 49 / 1903, S. 306. ↩︎

Nur im ersten Moment scheint positiv, wenn Muthesius mit ironi­schem Unterton schreibt, dass der Westen aus dem japa­ni­schen Haus „ungemein viel Anregung schöpfen“ könne, da Japan „in vieler Beziehung das Land (ist), das sich einem zu träu­menden Paradiese am innigsten nähere“4. Japan stand für Exotik, eben für ein „zu träu­mendes Paradies“, das gerade nicht Vorbild sein konnte für die moderne Hinwen­dung zum Prag­ma­ti­schen und Profanen, wie dies Ludwig Mies van der Rohe (1886 – 1969) später postu­liert hat.Ebd. ↩︎

Ein erster Ansatz für eine Inter­pre­ta­tion des japa­ni­schen Hauses im Kontext der sich formie­renden Moderne zeigt sich bei Friedrich Perzyński (1877 – 1965). Er war seit 1918 Mitglied des Arbeits­rats für Kunst, hatte Japan bereist und kannte daher das japa­ni­sche Haus aus eigener Anschauung. Es gebe im japa­ni­schen Haus, wie er fest­stellte, „Schemata für Teile des Hausbaus (Schie­be­türen, Matten, Fenster, Mobiliar); sie sind gradlinig, einfach und darum geschmack­voll – diese Völker stehen in ihrem Geschmacks­ni­veau turmhoch über unsrem“5. Mit „gradlinig, einfach und darum geschmack­voll“ beschrieb Perzyński allge­meine Gestal­tungs­prin­zi­pien, die sich weniger mit einem klaren archi­tek­to­ni­schen Programm verbanden, als mit einer ästhe­ti­schen Kritik an der euro­päi­schen Archi­tektur.Friedrich Perzyński in einer Umfrage des Arbeits­rats für Kunst, zitiert nach Manfred Schlösser (Hg.) (1980), Arbeitsrat für Kunst 1918 – 1921, Ausstel­lungs­ka­talog, Berlin: Akademie der Künste, S. 51. ↩︎

1922 dann wurde in Wasmuths Monats­hefte für Baukunst erstmals eine Serie von zwölf Foto­gra­fien eines japa­ni­schen Wohn­hauses veröf­fent­licht. Dies kam einer Offen­ba­rung gleich. Die augen­öff­nende Wirkung der Bilder lässt sich an Hans Schie­bel­huths Kommentar in der Zeit­schrift Qualität ermessen: „Die fabel­hafte Buntheit im Baulichen, mit der sich die märchen­süch­tige Phantasie des Abend­landes alles Ostasia­ti­sche ausmalt, erwies sich keines­wegs als vorhanden.“6 Er bezog sich auf die viel­fältig deko­rierten und bunten buddhis­ti­schen Pagoden‑, Palast- und Tempel­ar­chi­tek­turen, die bisher das Bild der japa­ni­schen Archi­tektur geprägt hatten. Schie­bel­huth fragte sich dann, ob „nicht in manchen Punkten die japa­ni­sche Wohnart vorbild­lich und anregend sein“ könne. Das sei „zwei­fellos mit ja zu beant­worten“7.Hans Schie­bel­huth (1922 / 1923), Japa­ni­sche Innen­räume, in: Qualität 3, August 1922 / März 1923, Schluss­heft, S. 70. ↩︎Ebd. ↩︎

Es war das erste Mal, dass Japan als Vorbild für die Erneue­rung der euro­päi­schen Archi­tektur genannt wurde. Dies war jedoch nur möglich, nachdem die Prin­zi­pien des modernen Bauens durch das Bauhaus, De Stijl, Le Corbusier oder Adolf Loos ausfor­mu­liert worden waren. Erst nach und nach verfügten die euro­päi­schen Archi­tekten überhaupt über die Kriterien, um die Moder­nität des japa­ni­schen Wohn­hauses zu erkennen.

Wohnhaus in Japan – Empfangs­zimmer, Foto: Wasmuths Monats­hefte für Baukunst und Städtebau 6 (1921 / 1922), H. 7 / 8, S. 253

Para­dies­fan­ta­sien und Urhütte

In der Mitte des 19. Jahr­hun­derts stand Japan im Fokus des euro­päi­schen Exotismus. Es wurde zur Projek­ti­ons­fläche von Para­dies­fan­ta­sien, die verbunden waren mit Vorstel­lungen von Natur­ver­bun­den­heit, einer ursprüng­li­chen Lebens­weise und Naivität seiner Bewohner, das heißt mit all jenen Eigen­schaften, die im Prozess der Moder­ni­sie­rung in Europa verloren gegangen waren. Das ist der Hinter­grund auch für Muthesius’ Beschrei­bung Japans als ein „zu träu­mendes Paradies“8. Muthesius’ Idee des japa­ni­schen Hauses steht damit in der Tradition der Ursprungs­fan­ta­sien und der Urhütte, wie sie verstärkt wieder seit dem 18. Jahr­hun­dert die Archi­tekten beschäf­tigten, so zum Beispiel der Essai sur l’architecture (1755) von Marc-Antoine Laugier, A Treatise on Civil Archi­tec­ture (1759) von William Chambers oder auch die Histoire de l’habitation humaine (1875) von Eugène Viollet-le-Duc.Hermann Muthesius (1903), Das japa­ni­sche Haus, in: Zentral­blatt der Bauver­wal­tung, 49 / 1903, S. 306. ↩︎

Neue Impulse erhielt die Sehnsucht nach der Urhütte nach 1918. Mit dem Ende des ersten modernen, äußerst brutal geführten Kriegs suchten viele Archi­tekten und Künstler jenseits der Grenzen Europas nach Modellen für die kultu­relle Erneue­rung. Der Erste Weltkrieg hatte den Glauben an die Werte der Aufklä­rung erschüt­tert und die huma­nis­ti­schen Grund­lagen der west­li­chen Kultur nach­haltig diskre­di­tiert.

Vom Blick nach Osten erhoffte man sich Impulse für die Erneue­rung der euro­päi­schen Kultur. Letztlich verstand sich die Moderne selbst als Erneue­rungs­be­we­gung und als Renais­sance der Kultur. So forderte Bruno Taut 1919 in seiner Schrift Ex Oriente Lux. Ein Aufruf an die Archi­tekten seine Leser auf, den Blick über das „Sumpf­chaos“9 der euro­päi­schen Kultur hinweg nach Osten zu richten. „Indien! Europäer! werft die schmut­zigen Lumpen der Bildung von euch, die klebrigen stin­kenden Hüllen über eurem Menschen (…)! Wie konnten wir uns den Blick nur so trüben lassen! (…) Klas­si­sche Säulen­wälder hatte man davor errichtet, eine grie­chisch-römisch-italie­ni­sche Mauer von Marmor­puppen und Tempel­fas­saden. Aber sie reißt und soll stürzen.“10Bruno Taut (2007), Ex Oriente Lux. Die Wirk­lich­keit einer Idee. Eine Sammlung von Schriften 1904 – 1938, hg. v. Manfred Speidel, Berlin: Gebr. Mann, S. 101. ↩︎Ebd. ↩︎

Dem „Sumpf­chaos“ der euro­päi­schen Geschichte stellte Taut die archi­tek­to­ni­sche „Zauber­welt“ von Angkor Wat, die Pagode von Madura und den Archi­tek­tur­berg Borobudur auf Java entgegen. „Beugt euch in Demut nieder, ihr Europäer! Die Demut wird euch erlösen. Sie wird euch Liebe geben, Liebe zur Gottheit Erde und Liebe zum Weltgeist.“11Ebd., S. 103. ↩︎

Auch Oskar Schlemmer (1888 – 1943), Meister am Bauhaus in Dessau, war im Osten auf der Suche nach dem „Ursprung des künst­le­ri­schen Schaffens“12. Vom Blick nach Osten erhoffte er sich einen „Durch­bruch der Bezirke klas­si­scher Ästhetik“13. Weniger pathe­tisch, aber nicht minder eindring­lich appel­lierte Mies van der Rohe 1923 in einem Vortrag an seine Zuhörer und forderte sie auf, „ihre Blicke über die histo­ri­schen und ästhe­ti­schen Schutt­haufen Europas hinweg auf das Elemen­tare und Zweck­volle des Wohnbaues zu lenken“14. Mies führte Beispiele „außerhalb des grie­chisch-römischen Kultur­kreises“15 an, wie etwa ein India­ner­zelt, eine Blatt­hütte oder das Iglu der Eskimos. Sein Ziel war die Befreiung der euro­päi­schen Bildung vom „ästhe­ti­schen Speku­lan­tentum“16.Oskar Schlemmer (1975), Manifest zur ersten Bauhaus-Ausstel­lung (1923), in: Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Archi­tektur des 20. Jahr­hun­derts, Braun­schweig / Wiesbaden, S. 65. ↩︎Ebd., S. 64. ↩︎Ludwig Mies van der Rohe (1986 b), Gelöste Aufgaben. Eine Forderung an unser Bauwesen (1923), in: Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin: Siedler, S. 302. ↩︎Ebd. ↩︎Ludwig Mies van der Rohe (1986 a), Bauen (1923), in: Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin: Siedler, S. 300 f., S. 300. ↩︎

Diese Appelle vereint die Forderung nach Grenz­über­schrei­tung zum Zweck der Erneue­rung der euro­päi­schen Kultur. Mit dem ethno­lo­gi­schen Blick über die Grenzen hinweg verband sich glei­cher­maßen die Hoffnung auf Rückkehr zum „Ursprung künst­le­ri­schen Schaffens“17 bei Schlemmer, zum „Elemen­taren“18 bei Mies und zum „Nackten“19 und Reinen bei Taut. In der Orien­tie­rung nach Osten erhoffte sich besonders Taut die Rückkehr zum Natur­zu­stand, das heißt die Rückkehr zu jenem Ursprung der Kultur, den Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) beschrieben hatte.Oskar Schlemmer (1975), Manifest zur ersten Bauhaus-Ausstel­lung, (1923), a. a. O., S. 65. ↩︎Ludwig Mies van der Rohe (1986 b), Gelöste Aufgaben (1923), a. a. O., S. 302. ↩︎Bruno Taut (2007), Ex Oriente Lux, a. a. O., S. 102. ↩︎

Obwohl Taut unmit­telbar nach dem Ersten Weltkrieg die Vorbilder zur Erneue­rung der Archi­tektur in Indien, Java und Kambo­dscha gesucht hatte, ging er 1933 nach Japan, mit der unver­än­derten Ziel­stel­lung, dort die elemen­taren Grund­sätze und die univer­sa­lis­ti­schen Prin­zi­pien der Archi­tektur zu finden. Dieses Leitthema zieht sich durch alle seine Aufsätze zur japa­ni­schen Kultur hindurch. Es ist auch das Grund­motiv, das sein Buch Houses and People of Japan bestimmt. Evident wird dies in einem der zentralen Kapitel, in dem verschie­dene Abbil­dungen von Teehäu­sern und Hotel­bauten aufge­führt sind, darunter auch drei Abbil­dungen von öffent­li­chen Bade­häu­sern. Diese bezeich­nete Taut aber nicht als Häuser sondern als Badezelte und „besonders wertvolle Leis­tungen Japans“20.Bruno Taut (1997), Das japa­ni­sche Haus und sein Leben, hg. v. Manfred Speidel, Berlin: Gebr. Mann, S. 188. ↩︎

Inter­es­san­ter­weise beschrieb Taut weniger die Gebäude als, in anthro­po­lo­gi­scher Ausrich­tung, die Bade­ge­wohn­heiten der Japaner. Diese würden in den öffent­li­chen Bade­häu­sern ganz ohne Geschlech­ter­tren­nung baden. In diesen schlichten, einfachen Häusern sei „ohne alle Geziert­heit das Nötige getan“21, sie seien mit „natürlich heiterem Charme (…) in die Natur hinein­ge­führt“22. Auch gebe es dort „keine falsche Scham“, sehr oft badeten „Frauen und Männer ohne Bade­kos­tüme zusammen“23. Und weiter: „Wo der Mensch sich den heilsamen Natur­ele­menten nähert, da wird er selbst zu einem Stück Natur, er und sein Werk.“24Ebd. ↩︎Ebd. ↩︎Ebd. ↩︎Ebd. ↩︎

In den Aufsätzen Tauts kommt Japan einem para­die­si­schen Ideal sehr nahe. Mit den Frauen und Männern, die ohne „Bade­kos­tüme“ zusammen baden, schil­derte Taut die japa­ni­sche Gesell­schaft im Rousseau’schen Natur­zu­stand. Es gehört zu den imma­nenten Ambi­va­lenzen von Tauts Japanbild, dass er die Japaner als Naturvolk zu einem Zeitpunkt beschrieb, als Japan sich schon seit Jahr­zehnten in einem aufho­lenden Moder­ni­sie­rungs­pro­zess befand und kurz vor dem Eintritt in den Zweiten Japanisch-Chine­si­schen Krieg (1937 – 1945) stand.

Wohnhaus in Japan – Bade­zimmer, Foto: Wasmuths Monats­hefte für Baukunst und Städtebau 6 (1921 / 1922), H. 7 / 8, S. 260

Villa Katsura: Klassik und Moderne

Taut war nach Japan aufge­bro­chen, um die univer­salen Prin­zi­pien der Kultur im Allge­meinen und der Archi­tektur im Beson­deren zu finden. Er wolle „vom Osten die univer­sale Weite lernen“, jene Univer­sa­lität, die „im heutigen Europa, viel­leicht bei allen Weißen, dege­ne­riert“25 sei. Dass er in Japan und damit im Osten danach suchte, liegt darin begründet, dass nach Taut die euro­päi­sche Kultur ihren Ursprung in Klein­asien und der Logik der Griechen hatte und das klas­si­sche Grie­chen­land schon eine Kultur „auf der Basis asia­ti­scher Univer­sa­lität“26 gewesen sei. Taut glaubte, die „univer­sale Weite“ in den Einsied­ler­hütten und Bauern­häu­sern Japans gefunden zu haben, aber auch im Shinden‑, im Shoin- und im Suki­ya­stil des japa­ni­schen Hauses sowie, in ihrer höchsten Form, in Katsura-rikyū, einem Prin­zen­pa­last aus dem 17. Jahr­hun­dert in Kyoto.Ebd., S. 255. ↩︎Ebd. ↩︎

In Houses and People of Japan überhöhte Taut Katsura-rikyū zum Höhepunkt der japa­ni­schen Archi­tektur. Unter der Über­schrift Das Bleibende beschreibt er das „Geheimnis dieser ganz einzig­ar­tigen Qualität von Katsura“27. Seinen Besuch von Haus und Park kommen­tierte er mit: „Mein großer Tag in Japan. Wie eine neue Alpine Archi­tektur.“28 Indem er sie als alpine Archi­tektur bezeich­nete, stellte Taut Katsura-rikyū in den Kontext seiner expres­sio­nis­ti­schen Idee der Stadt­krone, so wie er sie in seinem Buch Alpine Archi­tektur 1919 skizziert hatte. Seine Begegnung mit Katsura-rikyū beschrieb er folgen­der­maßen: „Wir stiegen auf dem Kieswege vor dem Eingangs­portal unter dem leuch­tenden Grün des jungen Laubs der Bäume aus dem Auto. Dieses Portal! Man stand lange davor. Es war wie neu von Bambus, der Zaun schloss etwas Schönes gegen die Aussen­welt ab, doch trotz seiner Höhe schien er das nicht mit einer herrisch abwei­senden Geste zu tun. Beide japa­ni­schen Freunde standen da ebenfalls lange still­schwei­gend mit uns. ‚Ist das nicht total modern?‘“29Ebd., S. 297. ↩︎Bruno Taut (2003), Ich liebe die japa­ni­sche Kultur! Kleine Schriften über Japan, hg. v. Manfred Speidel, Berlin: Gebr. Mann, S. 23. ↩︎Bruno Taut (1997), Das japa­ni­sche Haus und sein Leben, a. a. O., S. 272. ↩︎

An anderer Stelle beschei­nigte Taut Katsura-rikyū eine „absolut moderne Auffas­sung“30. Der moderne Architekt müsse fest­stellen, „dass dieses Gebäude absolut modern“31 sei. Taut präzi­sierte dies in seiner Beschrei­bung eines anderen Palasts, des Shugakuin-Palasts außerhalb von Kyoto. Wieder war es das stark symbo­lisch konno­tierte Archi­tek­tur­ele­ment von Eingangstor und Zaun, das Taut in höchstes Entzücken versetzte. „Als wir schließ­lich zum ersten Tor am unteren Eingang zurück­kehrten, fanden wir, daß das dort stehende Auto wie aus einem Guss zu Tor, Zaun und Sockel passte.“32 In der engli­schen Ausgabe wird dies noch zuge­spitzt, indem dort nicht nur vom Auto gespro­chen wird, sondern vom „Symbol der modernen Welt“33.Bruno Taut (2003), Ich liebe die japa­ni­sche Kultur! a. a. O., S. 99. ↩︎Bruno Taut zitiert nach Claudia Delank (1996), Das imaginäre Japan in der Kunst. ‚Japan­bilder‘ vom Jugend­stil bis zum Bauhaus, München: Iudicium, S. 168. ↩︎Bruno Taut (1997), Das japa­ni­sche Haus und sein Leben, a. a. O., S. 297. ↩︎„As we went back at last to the front gate at the lower entrance, we saw our car there waiting for us. This symbol of the modern world fitted most perfectly into its ancient surroun­dings, the gate, the fence and the socle.“ Bruno Taut (1937 / 1938), Houses and People of Japan, Tokio: Sanseido Press / London: John Gifford Ltd., S. 297. ↩︎

Einen Schritt weiter ging Taut dann in Das archi­tek­to­ni­sche Welt­wunder Japans. Es sei Katsura-rikyū das schönste Beispiel der klas­si­schen Archi­tektur Japans, so etwas wie die „Akropolis Japans“34. Er erklärte Katsura-rikyū kurzer­hand zu einem „archi­tek­to­ni­schen Welt­wunder“35 und stellte das Gebäude auf eine Stufe mit dem Parthenon Tempel auf der Athener Akropolis. Überhaupt sei das japa­ni­sche Haus „dem altgrie­chi­schen Tempel mit der Korrekt­heit seiner Profile, der Genau­ig­keit seiner Marmor­fugen und seiner sonstigen technisch-ästhe­ti­schen Verfei­ne­rung vergleichbar“36. Katsura-rikyū war demnach nicht weniger klassisch als es modern war. Als klas­si­sche Archi­tektur stand es für das Älteste, als moderne Archi­tektur für das Neueste.Bruno Taut (2003), Das archi­tek­to­ni­sche Welt­wunder Japans, in: Ders., Ich liebe die japa­ni­sche Archi­tektur! Kleine Schriften über Japan, S. 94. ↩︎Ebd., S. 93. ↩︎Bruno Taut (1997), Das japa­ni­sche Haus und sein Leben, a. a. O., S. 32 f. ↩︎

Taut fügte also die moderne Archi­tektur, das klas­si­sche japa­ni­sche Haus und den grie­chi­schen Tempel zu einer Einheit zusammen. Es verbinden sich bei ihm das Vorver­gan­gene in Form des grie­chi­schen Tempels, das Vergan­gene in Form des japa­ni­schen Hauses der Edozeit und die Jetztzeit in Form der Moderne zu einem Bild. Mit Walter Benjamin (1892 – 1940) muss man von einem dialek­ti­schen Bild sprechen. Denn ein dialek­ti­sches Bild ist, „worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstel­la­tion zusam­men­tritt.“37 Im dialek­ti­schen Bild wird das Gegen­sätz­liche zu einer span­nungs­vollen Einheit vereint.Walter Benjamin (1982), Das Passagen-Werk. Gesam­melte Schriften Bd. 5, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt / M.: Suhrkamp Verlag, S. 576 f. ↩︎

In Gestalt von Katsura-rikyū kommt bei Taut dem japa­ni­schen Haus die Position eines Binde­glieds zu. Insofern beide modern sind, steht Katsura-rikyū mit dem Automobil auf einer Stufe. Katsura-rikyū steht aber auch mit dem Parthenon Tempel auf einer Stufe, insofern beide klassisch sind. Klassik und Moderne sind kein Wider­spruch mehr, sie sind über ein Drittes, das japa­ni­sche Haus, aufein­ander bezogen. So ist auch die Moderne nicht mehr das, was mit der Vergan­gen­heit bricht, genauso wenig wie die Klassik nicht mehr nur das Vergan­gene ist, sondern immer schon das Neue im Keim enthält.

Die heraus­ra­gende Stellung von Ka­tsura-rikyū besteht jetzt in der Vermitt­lung zwischen der euro­päi­schen Moderne und der Antike. Taut zeigte, dass über die Vermitt­lung des japa­ni­schen Hauses die euro­päi­sche moderne Archi­tektur wieder an ihre klas­si­sche Vergan­gen­heit anknüpfen konnte, also an jene Vergan­gen­heit, zu der aufgrund des Ersten Welt­kriegs ein direkter Zugang unmöglich geworden war. 1919, in Ex Oriente Lux, hatte Taut die Antike noch als „schmut­zige Lumpen der Bildung und klebrige stinkende Hülle über dem Menschen“38 abgetan. Über die Moder­nität des japa­ni­schen Hauses gelang es ihm, die moderne Archi­tektur wieder mit dem Ursprung der euro­päi­schen Archi­tektur in Beziehung zu setzen. In der Vermitt­lung durch das japa­ni­sche Haus war jetzt die Moderne nicht mehr tradi­ti­onslos, sie zeigte sich nicht nur als inno­va­tive Praxis, sondern ebenso sehr als Tradition.Bruno Taut (2007), Ex Oriente Lux, a. a. O., S. 101. ↩︎

Prof. Dr.-Ing. habil., M. S. Jörg H. Gleiter, Mitglied des BDA, war von 2005 bis 2012 Professor für Ästhetik an der Fakultät für Design und Künste an der Freien Univer­sität Bozen. Seit 2012 ist er Inhaber des Lehr­stuhls für Archi­tek­tur­theorie an der TU Berlin. Jörg H. Gleiter ist Mitglied des Redak­ti­ons­bei­rats dieser Zeit­schrift, Heraus­geber der Buchreihe Archi­tektur-Denken im Tran­script Verlag und Mither­aus­geber der Inter­net­zeit­schrift für Theorie der Archi­tektur Wolken­ku­ckucks­heim. Seit vielen Jahren koope­riert er mit verschie­denen Univer­si­täten in Japan und publi­zierte unter anderem zu japa­ni­schen Themen­parks und zur zeit­ge­nös­si­schen Archi­tektur. 2003 bis 2005 war er Visiting Professor für Archi­tek­tur­phi­lo­so­phie an der Waseda Univer­sität in Tokio.

  1. Der hier vorlie­gende Aufsatz verdankt einige Grund­lagen Manfred Speidel und seinen Arbeiten zum japa­ni­schen Haus. Eine ausführ­liche, längere Fassung des Aufsatzes findet sich unter: https://www.transcript-verlag.de/978–3‑8376–7531‑3/grundlagen-der-architekturtheorie‑i/ ↩︎
  2. Tetsuro Yoshida (1935), Das japa­ni­sche Wohnhaus, Berlin: Ernst Wasmuth Verlag. ↩︎
  3. Hermann Muthesius (1903), Das japa­ni­sche Haus, in: Zentral­blatt der Bauver­wal­tung, 49 / 1903, S. 306. ↩︎
  4. Ebd. ↩︎
  5. Friedrich Perzyński in einer Umfrage des Arbeits­rats für Kunst, zitiert nach Manfred Schlösser (Hg.) (1980), Arbeitsrat für Kunst 1918 – 1921, Ausstel­lungs­ka­talog, Berlin: Akademie der Künste, S. 51. ↩︎
  6. Hans Schie­bel­huth (1922 / 1923), Japa­ni­sche Innen­räume, in: Qualität 3, August 1922 / März 1923, Schluss­heft, S. 70. ↩︎
  7. Ebd. ↩︎
  8. Hermann Muthesius (1903), Das japa­ni­sche Haus, in: Zentral­blatt der Bauver­wal­tung, 49 / 1903, S. 306. ↩︎
  9. Bruno Taut (2007), Ex Oriente Lux. Die Wirk­lich­keit einer Idee. Eine Sammlung von Schriften 1904 – 1938, hg. v. Manfred Speidel, Berlin: Gebr. Mann, S. 101. ↩︎
  10. Ebd. ↩︎
  11. Ebd., S. 103. ↩︎
  12. Oskar Schlemmer (1975), Manifest zur ersten Bauhaus-Ausstel­lung (1923), in: Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Archi­tektur des 20. Jahr­hun­derts, Braun­schweig / Wiesbaden, S. 65. ↩︎
  13. Ebd., S. 64. ↩︎
  14. Ludwig Mies van der Rohe (1986 b), Gelöste Aufgaben. Eine Forderung an unser Bauwesen (1923), in: Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin: Siedler, S. 302. ↩︎
  15. Ebd. ↩︎
  16. Ludwig Mies van der Rohe (1986 a), Bauen (1923), in: Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin: Siedler, S. 300 f., S. 300. ↩︎
  17. Oskar Schlemmer (1975), Manifest zur ersten Bauhaus-Ausstel­lung, (1923), a. a. O., S. 65. ↩︎
  18. Ludwig Mies van der Rohe (1986 b), Gelöste Aufgaben (1923), a. a. O., S. 302. ↩︎
  19. Bruno Taut (2007), Ex Oriente Lux, a. a. O., S. 102. ↩︎
  20. Bruno Taut (1997), Das japa­ni­sche Haus und sein Leben, hg. v. Manfred Speidel, Berlin: Gebr. Mann, S. 188. ↩︎
  21. Ebd. ↩︎
  22. Ebd. ↩︎
  23. Ebd. ↩︎
  24. Ebd. ↩︎
  25. Ebd., S. 255. ↩︎
  26. Ebd. ↩︎
  27. Ebd., S. 297. ↩︎
  28. Bruno Taut (2003), Ich liebe die japa­ni­sche Kultur! Kleine Schriften über Japan, hg. v. Manfred Speidel, Berlin: Gebr. Mann, S. 23. ↩︎
  29. Bruno Taut (1997), Das japa­ni­sche Haus und sein Leben, a. a. O., S. 272. ↩︎
  30. Bruno Taut (2003), Ich liebe die japa­ni­sche Kultur! a. a. O., S. 99. ↩︎
  31. Bruno Taut zitiert nach Claudia Delank (1996), Das imaginäre Japan in der Kunst. ‚Japan­bilder‘ vom Jugend­stil bis zum Bauhaus, München: Iudicium, S. 168. ↩︎
  32. Bruno Taut (1997), Das japa­ni­sche Haus und sein Leben, a. a. O., S. 297. ↩︎
  33. „As we went back at last to the front gate at the lower entrance, we saw our car there waiting for us. This symbol of the modern world fitted most perfectly into its ancient surroun­dings, the gate, the fence and the socle.“ Bruno Taut (1937 / 1938), Houses and People of Japan, Tokio: Sanseido Press / London: John Gifford Ltd., S. 297. ↩︎
  34. Bruno Taut (2003), Das archi­tek­to­ni­sche Welt­wunder Japans, in: Ders., Ich liebe die japa­ni­sche Archi­tektur! Kleine Schriften über Japan, S. 94. ↩︎
  35. Ebd., S. 93. ↩︎
  36. Bruno Taut (1997), Das japa­ni­sche Haus und sein Leben, a. a. O., S. 32 f. ↩︎
  37. Walter Benjamin (1982), Das Passagen-Werk. Gesam­melte Schriften Bd. 5, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt / M.: Suhrkamp Verlag, S. 576 f. ↩︎
  38. Bruno Taut (2007), Ex Oriente Lux, a. a. O., S. 101. ↩︎

Autor*innen

Wohnhaus in Japan – Garten­an­sicht, Foto: Wasmuths Monats­hefte für Baukunst und Städtebau 6 (1921 / 1922), H. 7 / 8, S. 250 (gemein­frei)
Wohnhaus in Japan – Kleines Empfangs­zimmer, Foto: Wasmuths Monats­hefte für Baukunst und Städtebau 6 (1921 / 1922), H. 7 / 8, S. 252
Wohnhaus in Japan – Empfangs­zimmer, Foto: Wasmuths Monats­hefte für Baukunst und Städtebau 6 (1921 / 1922), H. 7 / 8, S. 253
Wohnhaus in Japan – Bade­zimmer, Foto: Wasmuths Monats­hefte für Baukunst und Städtebau 6 (1921 / 1922), H. 7 / 8, S. 260