Platten-Potential

Buch der Woche: Neuper­lach ist schön

„Neuper­lach ist schön“ – wie zur stolzen Bestä­ti­gung dieses Titel-State­ments wirkt die 700 Seiten starke und gefühlt fünf Kilo schwere Publi­ka­tion wie eine Papier gewordene Mani­fes­ta­tion besagter Münchner Groß­wohn­sied­lung. Doch auch der Inhalt des Buches zeigt: Opti­mismus gegenüber der Weiter­ent­wick­lung von Plat­ten­bau­quar­tieren ist ange­sichts des Wohnungs­man­gels nicht nur notwendig, sondern bringt auch enormes entwer­fe­ri­sches Potential mit sich.

Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 148–149

Der monu­men­tale Band, der zum 50. Geburtstag Neuper­lachs von Andreas Hild und Andreas Müsseler (Profes­soren für Entwerfen, Umbau & Denk­mal­pflege an der TU München) zusammen mit Studie­renden und vielen weiteren Akteuren entwi­ckelt wurde, nimmt sich nicht nur der Vergan­gen­heit der „gebauten Utopie“ an, sondern wirft auch einen Blick in die Zukunft. Denn, so stellt Hild fest: Die Probleme von heute sind ganz ähnlich wie die zur Entste­hungs­zeit der ab 1967 errich­teten Entlas­tungs­stadt. Im Gegensatz zu damals aber müsse es ange­sichts der heutigen Wohnungsnot „vielmehr darum gehen, die vorhan­dene Stadt umzubauen“. Dafür sei es notwendig, den mitt­ler­weile reno­vie­rungs­be­dürf­tigen Bestand zunächst zu erfor­schen sowie „die verbor­gene Poesie im Vorhan­denen zu entdecken und aufzu­zeigen“.

Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 122–123.

Der Erfor­schung des Bestands wurde im Buch in der Tat ein sehr umfang­rei­cher Teil einge­räumt, der sowohl eine detail­lierte Bauge­schichte, eine Bestands­auf­nahme der unter­schied­li­chen Bauten sowie foto­gra­fi­sche Serien zu bestimmten Schwer­punkt­themen beinhaltet. Durch die Inven­ta­ri­sie­rung, so Hild, habe sich beispiels­weise die über­ra­schende Erkenntnis ergeben, dass in Neuper­lach nicht vorwie­gend Beton, sondern vor allem Ziegel verbaut wurden. Über Neuper­lach hinaus wird zudem eine enorme Spann­breite an Vergleichs­pro­jekten präsen­tiert, die seit den 1920er bis in die 1970er Jahre gebaut wurden. Diese reichen von Le Corbu­siers Plan Voisin (1925) und Gropius‘ Siedlung Törten in Dessau (1926–1928) bis hin zum Märki­schen Viertel in Berlin (1973–1974) und Le Mirail in Toulouse (1962–1977). Dazu werden bauliche Daten sowie zahl­reiche Abbil­dungen wie Fassa­den­de­tails, Aufrisse, Quer­schnitte und Grund­risse geliefert, die eine verglei­chende Betrach­tung ermög­li­chen. Ergänzend sind erläu­ternde und histo­risch kontex­tua­li­sie­rende Texte einge­streut.

Neuper­lach mit Alpen
Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 440–441.

Im zweiten Teil der Publi­ka­tion sind unter der Über­schrift „Hand­lungs­mög­lich­keiten“ schließ­lich konkrete Vorschläge zur Über­ar­bei­tung von Neuper­lach gesammelt, bei denen es laut Heraus­geber Andreas Müsseler jedoch keines­falls darum gehen solle, „durch einen weiteren großen, alles restruk­tu­rie­renden Wurf alles Bekannte bis zu Unkennt­lich­keit zu über­formen“. Unter anderem steht das Kern­pro­blem der baulichen Dichte im Fokus der Arbeiten, denn Städte wie Neuper­lach, so hebt Uta Hassler hervor, wurden nach der Charta von Athen (1933) und deren Ideal der Funk­ti­ons­tren­nung entworfen und dabei „stets mit geringen Dichten – ‚anti-städtisch‘, im Grünen“ gedacht. Dies zeigt sich beispiels­weise auch in der von Susanne Frank vorge­nom­menen verglei­chenden Analyse zwischen Neuper­lach und anderen Quar­tieren in Berlin, Wien, Zürich und München, bei denen Neuper­lach mit seinen groß­zü­gigen Außen­raum­an­lagen unter den am wenigsten dichten Wohn­vier­teln rangiert.

Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 462–463.

Die vorge­stellten studen­ti­schen Entwürfe versuchen grund­sätz­lich, sich den typo­lo­gi­schen Beson­der­heiten Neuper­lachs anzu­nehmen und diese weiter­zu­denken – eines der Projekte mit dem Thema „Köpfe“ widmet sich etwa den typischen geschlos­senen Stirn­seiten der Bauten und der Frage, wie diese trans­for­miert und erweitert werden können. Das darauf­fol­gende Thema „Knoten“, entwi­ckelt von Master-Studie­renden, versucht, bestehende Bauwerke durch neue Baukörper archi­tek­to­nisch zu verknüpfen. Unter den Stich­worten „Andocken“ und „Aufsto­cken“ werden hori­zon­tale und vertikale Erwei­te­rungen des Bestands erprobt. Wenn­gleich viele der Entwürfe viel­ver­spre­chende Ansätze zu enthalten scheinen und teils mit tollen Wohnungs­mo­dellen illus­triert sind, wären kurze erklä­rende Texte an mancher Stelle hilfreich gewesen.

Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 634–635.

Im letzten Teil des Buches geht es schließ­lich weniger um konkrete Hand­lungs­vor­schläge, sondern um den mehr oder weniger utopisch gefassten Blick in die Zukunft der Münchner Groß­wohn­sied­lung. Eine syste­ma­ti­sche Dekli­na­tion von Möglich­keiten der Nach­ver­dich­tung durch Hangjae Lee steht hier neben fanta­sie­vollen studen­ti­schen Utopie-Visua­li­sie­rungen sowie einem Plädoyer des DAM-Kurators Oliver Elser, eine Kampagne zur Umwertung von Mega­struk­turen – etwa mit dem Hashtag #Liebe­Groß­sied­lung – zu starten. Insgesamt bietet der umfäng­liche Band inhalt­lich eine groß­ar­tige Band­breite von Methoden und Ideen, vom Analy­ti­schen und Indi­vi­duell-Unter­su­chenden über das praxis­be­zo­gene Verall­ge­mei­nernde bis hin zum träu­me­risch Visio­nären. Wenn­gleich man ange­sichts des gewal­tigen Volumens einzelne Inhalte etwas hätte zusam­men­fassen können, muss die Publi­ka­tion als eine groß­ar­tige Leistung gewertet werden, deren Erkennt­nisse zukunfts­wei­send sind.
Elina Potratz

Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie. 704 S., über 1500 Abbil­dungen, Franz Schier­meier Verlag, München 2018,  Einfüh­rungs­preis 44 Euro (bis 19. Mai 2019, danach 56 Euro), ISBN 978–3‑943866–65‑0

Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 148–149
Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 122–123.
Neuper­lach mit Alpen
Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 440–441.
Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 462–463.
Andreas Hild / Andreas Müsseler (Hrsg.): Neuper­lach ist schön. Zum 50. einer gebauten Utopie, S. 634–635.