Trauma Klima

Die Krise als Chance

Sie geht uns an die Nerven, diese Nach­hal­tig­keits- und Klima­de­batte! Kommt man im Zusam­men­hang mit Bauauf­gaben jeglicher Art mit Bauherren, Kollegen oder Behörden darauf zu sprechen, wird die Abwehr allein schon über die Körper­sprache sichtbar. Diese andau­ernde Vorhal­tung unserer eigenen Nach­läs­sig­keit und Bequem­lich­keit scheint unser ökolo­gi­sches Gewissen unbewusst mehr zu berühren als uns lieb ist. Auf das Thema dieses Heftes ange­spro­chen, entgegnen die meisten Kollegen, dass man über den Begriff Perma­frost Bescheid wisse, bei Perma­kultur hingegen stößt man auf fragende Blicke und zuckende Schultern.

Das Besondere an der Perma­kultur ist die Bedeutung der Inter­ak­tion, die sich zwischen den unter­schied­li­chen ökolo­gi­schen Prozessen abspielt. Mit anderen Worten: Pflanzen und Tiere werden als inter­de­pen­dentes System begriffen, in dem jede Pflan­zenart und/​oder jedes Lebewesen als ein unab­ding­bares Teil­ele­ment eines Gesamt­sys­tems angesehen wird. Jedes System ist mehr als die Summe aller Teile; diese werden erst zur Einheit, wenn die Wech­sel­wir­kung zwischen den Teilen erkannt und befördert wird. Das setzt aller­dings voraus, dass man die Teil­ele­mente im Einzelnen genau­es­tens kennt. Grund­be­din­gung der Perma­kultur-Prin­zi­pien ist das voll­stän­dige Wissen über die Eigen­arten der Pflanzen und die depen­denten Lebewesen (Bakterien, Insekten, Larven, Würmer), um das Verhalten im System zu verstehen.

Güter­bahn­hof­areal Freiburg: Stra­ßen­profil mit teilweise circa 45 Meter Breite.
Aus welchem Grund die Ausbil­dung der mittleren Zone mit wenig Grün­be­wuchs und unklarem Fußgän­ger­be­reich ausge­bildet ist, ist nicht erklärbar, Foto: Hannelore Pfeifer

Wenn man die positiven und negativen Rück­kopp­lungen versteht, kann man selbst­re­gu­lie­rende Systeme erzeugen. Das klingt einfacher, als es wirklich ist, und setzt profundes Wissen und Geduld voraus. Allein die Defi­ni­tion des Begriffs „Perma“ mit dem Zusatz „Kultur“ besagt, dass es sich um eine ganz­heit­liche Über­struktur handelt, die seit geraumer Zeit zu einem holis­ti­schen, inte­gra­tiven, im weitesten Sinne kyber­ne­ti­schen Denk­an­satz geworden ist – zu einer Ganz­heits­lehre, die „gesell­schaft­liche, wirt­schaft­liche, physi­ka­li­sche, chemische, biolo­gi­sche, geistige und lingu­is­ti­sche Systeme und ihre Eigen­schaften als Ganzes und nicht als Zusam­men­set­zung ihrer Teile betrachtet.“1 Die Natur ist ein im Fluss befind­li­ches Phänomen, dessen Schwin­gungen zwischen den Dingen ständig oszil­lieren. Darauf versucht die Struktur der Perma­kultur eine Antwort zu finden.Mollison und Holmgren defi­nierten Perma­kultur zunächst als Planung, Entwick­lung und Bewirt­schaf­tung inte­grierter, sich selbst entwi­ckelnder Systeme aus mehr­jäh­rigen und sich selbst vermeh­renden einjäh­rigen Pflanzen und Tierarten, die im Einklang mit den jewei­ligen Umwelt­be­din­gungen und den Bedürf­nissen ihrer Nutzer stehen; https://​de​.wikipedia​.org/​w​i​k​i​/​P​e​r​m​a​k​u​l​tur, Seiten­aufruf: 17.09.2018; https://​de​.wikipedia​.org/​w​i​k​i​/​H​o​l​i​s​mus, Seiten­aufruf: 17.09.2018. ↩︎

Unsere Denk­struktur hingegen ist in der Regel eher statisch angelegt. Perma­kultur ist auf der Struktur des Kreis­laufs gegründet und als viel­fäl­tiges Ökosystem an Effizienz und Nach­hal­tig­keit unüber­troffen. Statt Mono­kul­turen in Reih und Glied gilt die Biodi­ver­sität. Damit umfasst sie die Vielfalt innerhalb sowie zwischen den Arten und darüber hinaus die Vielfalt der Ökosys­teme selbst. Nach dieser Defi­ni­tion besteht Biodi­ver­sität auch aus der gene­ti­schen Vielfalt. Die seit über hunderten von Jahren ange­sam­melte Miss­ach­tung fast aller ökolo­gi­schen Kreis­läufe führt uns nun immer mehr und spürbar zur Erkenntnis, dass die Verän­de­rung des Klimas von Menschen­hand verur­sacht wurde.

Epoche Heißzeit?
Es fällt nicht schwer, sich vorzu­stellen, dass wir an der Schnitt­stelle zu einer neuen und beson­deren Epoche angelangt sind. Jede Epoche, ob Romanik, Barock oder die Moderne, wurde durch gesell­schaft­liche, künst­le­ri­sche oder poli­ti­sche Ände­rungen bezie­hungs­weise Ereig­nisse ausgelöst. Die Epochen, die unter dem Über­be­griff Völker­wan­de­rung subsu­miert werden, stellen keinen abge­schlos­senen Vorgang dar. Vielmehr spielten bei den Wande­rungs­be­we­gungen unter­schied­liche Motive und Faktoren eine Rolle. Im Unter­schied zu diesen Epochen wird man jedoch fest­stellen können, dass die Klima­ver­än­de­rung eine Epoche einleitet, die global verlaufen wird. Niemand zwischen Grönland und Pata­go­nien, Südafrika und Nord­eu­ropa, Austra­lien und Japan wird davon verschont bleiben.

Beachtet man die unter­schied­li­chen Aspekte des Klima­wan­dels, wird man damit weit mehr als die umfas­senden Verän­de­rungen der ökolo­gi­schen Grund­struk­turen ansehen müssen. Die Lösungen einzelner Teil­be­reiche ziehen zwangs­läufig alle inter­de­pen­denten Teil­be­reiche mit sich; holis­tisch-inte­gra­tive (kyber­ne­ti­sche) Lösungen sind kaum mehr möglich. Diese Epoche, die im Gegensatz zu den vorher­ge­gan­genen nach­hal­tiger wirken wird, drückt allen Lebens­be­rei­chen ihren Stempel auf.

Natur­ver­trag
Vor rund 200 Jahren hatte die Mensch­heit noch eine Art „Natur­ver­trag“. In Michel Serres „Philo­so­phi­scher Ökologie“2 wird der Natur­ver­trag als jener Zustand beschrieben, in welchem der Mensch den Anbau des Lebens­un­ter­halts auf den Äckern und Feldern betrieb. Der Ackerbau war die Leit­tä­tig­keit nahezu aller Kulturen rund um den Globus. In dieser Kultur pflegte der Mensch ein natür­li­ches Empfinden gegenüber der Natur. Der Landwirt hatte ein Gefühl für das Wetter und roch es förmlich, wann er die Ernte einzu­fahren hatte. Er lebte den Natur­kreis­lauf sozusagen von Grund auf. Er sorgte für den Rhythmus der Anbau­in­ter­valle und der Sorten­viel­falt, und er sorgte für die regel­norme Düngung, die seine Kreaturen im Stall oder auf den Weide­flä­chen lieferten.Serres, Michel: Natur­ver­trag, Paris/​Frankfurt am Main 1994. ↩︎

Güter­bahn­hof­areal Freiburg. Vertei­ler­strasse mit PKW Park­streifen, Fußgän­gerweg + Gebäu­de­vor­zone.
Fahr­weg­breite circa 6,5 Meter, kein Fahr­radweg gekenn­zeichnet, Fotos: Hannelore Pfeifer

Diese kultu­relle Grundlage ist uns nicht nur mit der indus­tria­li­sierten Land­wirt­schaft abhanden gekommen. Vor den Bild­schirmen der Computer sitzend, in klima­ti­sierten Räumen, verwalten wir fern­ge­steu­erte Maschinen und Roboter, um unsere Ernährung und unser Wohl­ergehen sicher­zu­stellen. Die Eliten, die sich daraus gebildet haben, scheinen insgesamt über eine andere Wahr­neh­mungs­ebene zu verfügen. Wir brauchen deshalb den unheim­li­chen Visionen Bruno Latours („Das terres­tri­sche Manifest“)3 nicht einmal Glauben zu schenken, wenn wir nicht bereits erahnten, dass an der Einhau­sung und der sicher­heits­ein­ge­zäunten Wirk­lich­keit der wohl­ha­benden Bevöl­ke­rungs­schichten (auch in Europa) bereits die brutale Theorie Latours Gestalt annimmt. Latour schreibt, um die abge­dro­schene Metapher der Titanic zu bemühen: „Die führenden Klassen begreifen, dass das Schiff unter­gehen wird; sie schnappen sich die Rettungs­boote; fordern das Orchester auf, immer weiter Schlum­mer­lieder zu spielen, damit sie im Schutz der Nacht die Leinen lösen können, bevor die riesige Schlag­seite die anderen Klassen alarmiert. (…) Diese Leute-Eliten, die man wohl nicht anders als obsku­ran­tis­tisch bezeichnen kann – wenn sie erst gar nicht mehr den Anschein erwecken, als würden sie die Erde mit dem Rest der Welt teilen wollen.“ Mit dieser Hypothese lässt sich erklären, wie die Plus-Globa­li­sie­rung zur Minus-Globa­li­sie­rung werden konnte.Latour, Bruno: Das terres­tri­sche Manifest, Berlin 2018. ↩︎

Wir benötigen keine weiteren Vergleiche; die Berichte über die Trumpsche Milli­ar­därs­clique, die uns wöchent­lich erreichen, sind an Deut­lich­keit nicht zu über­bieten. Ange­sichts dieses Desasters müssen wir uns die Frage gefallen lassen, welchem psycho­lo­gi­schen Abwehr­me­cha­nismus wir uns ausge­setzt haben, um dies alles auszu­halten und in gelas­sener Weise zuzusehen. Eine kollek­tive Verdrän­gung hat sich auf unsere Wahr­neh­mung gelegt; der blinde Fleck: Klima­be­wusst­sein. Es scheint die vorläufig einzige Erklärung dafür zu sein, dass man die bedroh­li­chen Sach­ver­halte aus der bewussten Wahr­neh­mung ausge­schlossen hat.

In der Psycho­logie gibt es den Begriff der Prokras­ti­na­tion – eine Arbeits­stö­rung, die ein nicht nötiges Verschieben des Arbeits­be­ginns bis zum extremen Aufschieben der Arbeit bezie­hungs­weise der Problem­lö­sung – enthält. Statt des Bewäl­ti­gens der eigent­li­chen Arbeit werden Alter­na­tiv­ar­beiten ausge­wählt. Mir scheint, dass sich dies nun als jene Störung offenbart, die über uns alle herein­ge­bro­chen ist. Seit Jahren, wenn nicht Jahr­zehnten, wissen wir, was wir der Natur antun. An verbalen Willens­be­kun­dungen und Absichts­er­klä­rungen hat es nicht gefehlt: Alle Bekun­dungen waren vom Bewusst­sein geprägt, es komme sowieso alles nicht so schnell und schon gar nicht so schlimm. Wir glaubten, dass wir alle Zeit der Welt hätten, um diese Probleme (was sind schon zwei Grad Erder­wär­mung?) zu lösen. Nun stehen wir nackt und bloß da und werden uns mit der kollek­tiven, gesell­schafts-kultu­rellen und psycho­ana­ly­ti­schen Frage beschäf­tigen müssen: Wie können wir die Angst über­winden?

Verbote, Gebote, Zerti­fi­kate?

Güter­bahn­hof­areal Freiburg: Stra­ßen­breite circa 12,5 Meter + PKW Park­streifen und Fußgän­gerweg – bislang ohne Ausbil­dung eines Fahr­rad­wegs

Ein wesent­li­cher Teil der Rück­kopp­lung ist die Besinnung auf die Struk­turen des Kreis­laufs, die im ökolo­gi­schen System a priori enthalten sind. Im archi­tek­to­ni­schen und städ­te­bau­li­chen Planungs­pro­zess werden Kreis­lauf­struk­turen kaum ange­wendet. Die Life-Cycle-Betrach­tungen als Basis jedes städ­te­bau­li­chen und archi­tek­to­ni­schen Entwick­lungs­pro­zesses – unab­hängig von der Größen­ord­nung – bildet immer noch die Ausnahme. Ökoef­fek­ti­vität, auch unter dem Begriff Cradle to cradle (C2C) bekannt, ist etwas für ausge­wie­sene Spezia­listen und noch lange nicht im Alltag ange­kommen. Produkte in Konstruk­tionen und Ausbau von Gebäuden mit nach­wach­senden Rohstoffen sind mit Zerti­fi­katen ausge­stattet, die deren Klima­freund­lich­keit belegen. Dem gegenüber stehen klima­schäd­liche Produkte, die nur in Ausnah­me­fällen einge­schränkt oder sogar verboten werden. Wir Archi­tekten haben es selbst in der Hand, die Bauherren und Nutzer vom Einsatz ökolo­gisch sinn­voller Mate­ria­lien zu über­zeugen. Voraus­set­zung sind aller­dings unsere Kennt­nisse bezie­hungs­weise Erkennt­nisse über die intrin­si­schen Gesetz­mä­ßig­keiten der Mate­ria­lien und deren Wirkungs­weisen im Zusam­men­spiel von Konstruk­tion, Bauphysik und Statik. Diese Bedingt­heit wird zwar in vielen hunderten von DIN-Normen und Richt­li­nien zerti­fi­ziert und geregelt – allein der ökolo­gi­sche Überbau wird vernach­läs­sigt oder ist schlichtweg nicht vorhanden.

Darf man im Zusam­men­hang mit einer klima­ge­rech­teren Archi­tektur und Lebens­weise über den Einsatz erwei­terter Verbote nach­denken? In der Philo­so­phie-Zeit­schrift Hohe Luft (Ausgabe 5 / 18) schreibt Greta Lührs 4 über Verbote, um fest­zu­stellen, dass wir uns bereits mit dem Rauch­verbot in Gast­stätten und öffent­li­chen Gebäuden auf libe­ral­feind­li­ches Terrain begeben hätten, ohne dass unsere Demo­kratie beschä­digt wurde. Denkt man diese Anre­gungen zu Ende, ergeben sich mehr Fragen, als uns lieb sein kann: Man könnte auf die Idee kommen, zum Beispiel, folgende Verbote und Gebote einzu­führen: Plas­tik­pro­dukte jeder Art zu verbieten, wenn diese nicht aus bio-logischen Rohpro­dukten herge­stellt oder nicht hundert­pro­zentig recy­cle­fähig sind; Kreuz­fahrt­schiffe verbieten, die mit Schweröl ange­trieben werden; nicht mehr Auto fah-ren über 120 km / h (dies wäre ein Leichtes); Wohnungs­bauten in voll­stän­diger Beton­kon­struk­tion, die mit poly­ure­t­han­hal­tigen Mate­ria­lien gedämmt sind, verbieten sowie Autos mit klima­schäd­li­chen Motoren; eine Beschrän­kung auf verkehrs­freund­liche Fahr­zeug­ab­mes­sungen gebieten; Vernich­tung von Lebens­mit­teln sank­tio­nieren (Beispiel: In Frank­reich hat die Regierung große Super­märkte dazu verpflichtet, mit Tafel- und Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen zusammen zu arbeiten) sowie Speku­la­tionen mit Grund­stü­cken; Baustoffe unter­binden, deren ökolo­gi­sche Kreislauf-Nachweise fehlen (Poly­ure­than, Diiso­cya­nate u.a.) ebenso Gebäude, deren gebäu­de­tech­ni­sche Anlagen den Vergleich zwischen Wartungs- und Unter­hal­tungs­kosten und den ener­ge­ti­schen Einspa­rungen nicht stand­halten. Die Liste kann nahezu endlos erweitert werden.Lührs, Greta: Was Spaß macht ist verboten? Hohe Luft 5 / 2018. ↩︎

Vernunft für die Welt
Unter dem Titel „Vernunft für die Welt“ wurde 2009 gemeinsam von Archi­tekten, Inge­nieuren und Stadt­pla­nern ein Klima­ma­ni­fest5 verab­schiedet. Knapp zehn Jahre später müssen wir uns einge­stehen, dass es bislang lediglich hehre Lippen­be­kennt­nisse waren, deren Umsetzung – wenn überhaupt – gerade mal mehr als zaghaft ange­gangen wird. Werden wir in diesem Tempo weiter verfahren, wird die heran­wach­sende Gene­ra­tion die Erde mögli­cher­weise in mancherlei Hinsicht als mehr oder weniger einge­schränkt bewohnbar wahr­nehmen. Lesen wir im Klima­ma­ni­fest: „Wir werden unser Enga­ge­ment durch unseren persön­li­chen Einsatz glaubhaft darstellen“, dann blicken wir unbe­ab­sich­tigt in unseren eigenen Spiegel und müssen uns fragen lassen, was wir von den sieben Punkten (zum Beispiel „…indem wir mit den rele­vanten öffent­li­chen und privaten Akteuren Anreize für ein nach­hal­tiges Bauen und eine klima­ge­rechte Stadt­ent­wick­lung gemeinsam entwi­ckeln und beschließen) umgesetzt haben. Übrigens muss man in diesem Zusam­men­hang noch einmal auf die Charta von Athen aus dem Jahre 1933 hinweisen. Auch dort sind schon vorge­ahnte Fehl­ent­wick­lungen beschrieben worden. Unwei­ger­lich werden wir mit unseren eigenen Fragen konfron­tiert: Wie viel können (müssen) wir Archi­tekten, Stadt- und Raum­planer selbst dazu beitragen? Wie könnte jener radikale Schnitt aussehen, der das Bewusst­sein verändert und die Vulnerabi­lität vermin­dert. Wie lässt sich unsere ange­passte Lethargie über­winden? Welche Utopien lassen sich umsetzen?Vernunft für die Welt. Manifest der Archi­tekten, Inge­nieure und Stadt­planer für eine zukunfts­fä­hige Archi­tektur und Inge­nieur­bau­kunst, Berlin 2009. ↩︎

Vulnerabi­lität
Fest steht: Nicht erst jetzt sind wir verwundbar geworden. Warum also spüren wir erst jetzt, wie hoch­kom­plex und sensibel alle Systeme geworden sind und dass wir deren Anfäl­lig­keit mögli­cher­weise übersehen haben. Klima­be­dingte Verän­de­rungen und Verschie­bungen in der Pflanzen- und Tierwelt führten zum Aussterben und/​oder zur extremen Verän­de­rung von Fort­pflan­zungs­pe­ri­oden. Unsere Anpas­sungs­stra­te­gien zum Schutz der Ökosys­teme und der Biodi­ver­sität sind viel zu langsam. Die überaus zähen Reak­tionen zur Verbes­se­rung der Luft­qua­lität können nicht verhin­dern, dass die Herz-Kreislauf- und Atem­wegs­er­kran­kungen exor­bi­tant zuge­nommen haben.6Gutmair, Lisa: Vulnerabi­lität und Klima­wandel, Balti 2017. ↩︎

Die Verwund­bar­keit ist auf allen Sektoren der klima- und sozio­kul­tu­rellen Themen fest­zu­stellen. Die Digi­ta­li­sie­rung hat dabei ebenso viele Anteile und berührt im Beson­deren die Versor­gungs­struk­turen der Wirt­schaft.7 Der struk­tu­relle Fehler der ener­ge­ti­schen Betrach­tung und Berech­nung von innen nach außen (EnEV) ist ein Synonym für die Einsei­tig­keit unserer Denk-Systeme. Aus den perma­kul­tu­rellen Struk­turen wissen wir, dass komple­xere Arbeits­me­thoden zwar anstren­gend sind, die kurz­fris­tigen ökono­mi­schen Vorteile der Bauträger gege­be­nen­falls auch schmälern, aber im inter­de­pen­denten Zusam­men­hang die Vulnerabi­lität verrin­gern. Last but not least darf nicht unerwähnt bleiben, dass zur Verwund­bar­keit auch die unseres eigenen Lebens gehört. Die Verschmut­zung unserer Umwelt und unseres Planeten ist auch ein Spie­gel­bild unserer Verant­wor­tungs­lo­sig­keit im eigenen inneren Raum unseres Leibes.Diez, Georg: http://​www​.spiegel​.de/​k​u​l​t​u​r​/​g​e​s​e​l​l​s​c​h​a​f​t​/​k​a​p​i​t​a​l​i​s​m​u​s​-​u​n​d​-​k​l​i​m​a​w​a​n​d​e​l​-​m​u​e​s​s​e​n​-​z​u​s​a​m​m​e​n​g​e​d​a​c​h​t​-​w​e​r​d​e​n​-​k​o​l​u​m​n​e​-​a​-​1​2​2​2​5​4​0​.​h​tml, Seiten­aufruf: 17.09.2018. ↩︎

Disrup­tiver Wandel
Wir müssen raus aus den akade­mi­schen Übungen, die auf die weit verbrei­tete Fragi­lität staat­li­cher Einrich­tungen Rücksicht nehmen. Wenn wir überleben wollen, müssen wir unseren Lebens­stil entschei­dend ändern. Der disrup­tive Wandel beschö­nigt nichts, ist radikal und rück­sichtslos, duldet keinen Aufschub, keine Halb­her­zig­keit und kein „ja, aber“. Unsere Forde­rungen können ange­sichts der immer größeren Verwund­bar­keit aller unserer Umstände nicht radikal genug sein: Den Bewohnern des Planeten Erde werden Notope­ra­tionen nicht erspart bleiben, die Inten­siv­sta­tionen sind vorbe­reitet.
Zu den Elementen der Perma­kultur gehörten unter anderem (ohne Anspruch auf Voll­stän­dig­keit):

Neue Boden­ord­nung: Seit Jahr­zehnten wird darüber gestritten, lamen­tiert und philo­so­phiert. Ange­sichts stei­gender Wohnungsnot und des demo­gra­fi­schen Wandels – der längst Wirk­lich­keit geworden ist – ist dieses Thema kein Tabu mehr. In den Nieder­landen ist Grund und Boden nur als Erbpacht zu erwerben. Dazu gehören gesetz­liche Grund­lagen für eine sozi­al­ver­träg­liche Bauland­be­schaf­fung unter Ausschluss jeder Art von Speku­lan­tentum.

Mobi­li­täts­kon­zepte: Der private PKW-Verkehr wird aus den Innen­städten verbannt. Niemand hat ein Anrecht auf einen Stell­platz in der Stadt. Die Antriebs­kultur aller Fort­be­we­gungs­mittel wird auf emis­si­ons­frei umge­stellt. Nahver­kehrs­kon­zepte, die einer­seits ökolo­gi­scher, ande­rer­seits flexibler und effi­zi­enter sind, werden umgesetzt. Die Konzepte dazu sind bekannt und liegen in den Schub­laden der Behörden. Die struk­tu­rell notwen­dige Vernet­zung von Stadt und Land kann ohne Umschweife reali­siert werden.

NKBAK Archi­tekten, Euro­päi­sche Schule Frankfurt, Frankfurt am Main 2013 – 2015, Foto: Thomas Mayer

Städ­te­bau­liche Konzepte: werden umgehend auf die Prüfung einer ange­mes­senen Klima­ge­rech­tig­keit umgebaut. Mehr Grün in der Stadt; andere Werte der Verdich­tung, der Besonnung und der Durch­lüf­tung. Der Anteil an Grün und Wasser­adern in der Stadt wird deutlich erhöht. Bebau­ungs­pläne und deren struk­tu­relle Grund­lagen – bisher auf den Bedürf­nissen des moto­ri­sierten Indi­vi­du­al­ver­kehrs aufgebaut – müssen geändert werden. Fußgänger und Fahrräder benötigen glück­li­cher­weise andere Abmes­sungen und ebenso andere Ober­flä­chen. Das vor einigen Jahren entwi­ckelte und nun teil­rea­li­sierte 8,5 Hektar große Wohn­ge­biet „Güter­bahnhof-Areal Nord in Freiburg“ kann als Synonym dafür angesehen werden, wie der PKW-Wahn den Planern den Blick verstellt hat. Selbst prag­ma­ti­sche Gründe erklären kaum Stra­ßen­pro­file (mit Gehweg und Park­streifen) von 6,5 bis 13 Meter Breite, die sich in Teil­be­rei­chen bis auf 45 Meter ausweiten (dazu fehlen Fahr­rad­wege). Diese sprechen nicht für jenes zukunfts­fä­hige Quartier, in dem der Mensch und nicht der indi­vi­du­elle Verkehr den Maßstab bildet. In anderen Städten sind ähnliche Auswüchse zu beob­achten.

Bautech­no­lo­gien mit nach­wach­senden Baustoffen und mono­li­thi­sche Bauweisen mit entspre­chenden Baustoffen (Mauerwerk) werden gefördert.

Krise als Chance
Kennen wir doch alles, haben wir immer und immer wieder gehört: Wir können nicht wirklich etwas bewirken; die Gesetze des Marktes, die Richtung wird durch ganz andere Faktoren bestimmt. Diese Satt­sam­keit hat eine Trägheit in unserer Gesell­schaft, Kultur und Politik erzeugt; wir sind faul, lustlos und müde geworden.

Ähnlich wie in Ray Bradburys Fahren­heit 451 gibt es hier und da kleine Gewächse, die wahr­ge­nommen werden und auf Alter­na­tiven hoffen lassen. Den jungen Archi­tekten NBKA in Frankfurt ist es gelungen, ein Dogma der Stadt­ver­wal­tung Frankfurt zu über­listen. Sollte doch jedes Gebäude, welches die öffent­liche Hand betreut und ausführt, im „Passiv­h­aus­stan­dard“ reali­siert werden. Unter dem hohen Termin­druck schnell ein Schul­ge­bäude zu reali­sieren – eigent­lich wurde das Büro gebeten, ein Container-Provi­so­rium zu planen –, entstand ein Gebäude bar jeglicher mecha­ni­scher Lüftung und Steuerung. In dem drei­ge­schos­sigen Holzbau – in kurzer Zeit geplant und errichtet – dürfen die Kinder die Fenster öffnen. Von Hand. Geregelt wird über eine simple CO2-Ampel. Diese Archi­tektur verdient größten Respekt: reduk­tio­nis­tisch bis ins Detail, eine Formen­sprache, die uns heute nahezu fremd geworden ist.

Eine ähnliche Bauauf­gabe für ein Schul­ge­bäude haben die gleichen Archi­tekten in Berlin vor sich: Ein Schul­ge­bäude wird – so der Wunsch des Bauherrn – ohne tech­ni­sche Lüftungs­an­lagen geplant. Es wird offen­sicht­lich: Hier hat eine Umori­en­tie­rung begonnen. Diese neue Ausrich­tung mag der Einsicht geschuldet sein, dass die finan­zi­ellen Vorteile der Ener­gie­ge­winne mit weit höheren Kosten für die Wartung und den Unterhalt solcher Systeme erkauft werden. Für die IBA 2006 bis 2013 in Hamburg wurden alter­na­tive Konzepte zum Wohnungsbau entwi­ckelt. Das Projekt „Grundbau und Siedler“8 zeigte ein Selbst­bau­system, das vor fünf Jahren durchaus für Furore sorgte. Über weitere Versuche dieser Art – gerade ange­sichts stei­gender Wohnungs­mieten – ist kaum etwas bekannt.https://​www​.ibaham​burg​.de/​f​i​l​e​a​d​m​i​n​/​M​e​d​i​a​t​h​e​k​/​W​h​i​t​e​p​a​p​e​r​/​1​3​0​6​1​2​_​G​r​u​n​d​b​a​u​_​u​n​d​_​S​i​e​d​l​e​r​.​pdf, Seiten­aufruf: 17.09.2018. ↩︎

Man spürt, die Pflänz­chen, die hier sprießen, sind noch rar. Mit Hilfe der Verwal­tungs­ge­richte wird die Luft in den Städten verbes­sert. Dies könnte auch ein Umdenken in der Mobi­li­täts­struktur der Bewohner erwirken. Leider ist das poli­ti­sche System vom reaktiven Tun und Handeln bestimmt. Nur wir selbst – und unser Berufs­stand im Beson­deren – müssen das Aktive wieder stärker in den Vorder­grund stellen.

Prof. Dipl.-Ing. Günter Pfeifer (*1943) ist freier Architekt BDA in Freiburg. Bis zu seiner Emeri­tie­rung im Sommer 2012 hatte er an der TU Darmstadt den Lehrstuhl für Entwerfen und Wohnungsbau inne. Seit Sommer 2011 betreibt Günter Pfeifer mit Prof. Dr. Annette Rudolph-Cleff die Fondation Kyber­netik – ein Praxis­labor der TU Darmstadt und Pool für Nach­hal­tig­keits­for­schung. Günter Pfeifer ist Mitglied des Redak­ti­ons­bei­rats dieser Zeit­schrift.

  1. Mollison und Holmgren defi­nierten Perma­kultur zunächst als Planung, Entwick­lung und Bewirt­schaf­tung inte­grierter, sich selbst entwi­ckelnder Systeme aus mehr­jäh­rigen und sich selbst vermeh­renden einjäh­rigen Pflanzen und Tierarten, die im Einklang mit den jewei­ligen Umwelt­be­din­gungen und den Bedürf­nissen ihrer Nutzer stehen; https://​de​.wikipedia​.org/​w​i​k​i​/​P​e​r​m​a​k​u​l​tur, Seiten­aufruf: 17.09.2018; https://​de​.wikipedia​.org/​w​i​k​i​/​H​o​l​i​s​mus, Seiten­aufruf: 17.09.2018. ↩︎
  2. Serres, Michel: Natur­ver­trag, Paris/​Frankfurt am Main 1994. ↩︎
  3. Latour, Bruno: Das terres­tri­sche Manifest, Berlin 2018. ↩︎
  4. Lührs, Greta: Was Spaß macht ist verboten? Hohe Luft 5 / 2018. ↩︎
  5. Vernunft für die Welt. Manifest der Archi­tekten, Inge­nieure und Stadt­planer für eine zukunfts­fä­hige Archi­tektur und Inge­nieur­bau­kunst, Berlin 2009. ↩︎
  6. Gutmair, Lisa: Vulnerabi­lität und Klima­wandel, Balti 2017. ↩︎
  7. Diez, Georg: http://​www​.spiegel​.de/​k​u​l​t​u​r​/​g​e​s​e​l​l​s​c​h​a​f​t​/​k​a​p​i​t​a​l​i​s​m​u​s​-​u​n​d​-​k​l​i​m​a​w​a​n​d​e​l​-​m​u​e​s​s​e​n​-​z​u​s​a​m​m​e​n​g​e​d​a​c​h​t​-​w​e​r​d​e​n​-​k​o​l​u​m​n​e​-​a​-​1​2​2​2​5​4​0​.​h​tml, Seiten­aufruf: 17.09.2018. ↩︎
  8. https://​www​.ibaham​burg​.de/​f​i​l​e​a​d​m​i​n​/​M​e​d​i​a​t​h​e​k​/​W​h​i​t​e​p​a​p​e​r​/​1​3​0​6​1​2​_​G​r​u​n​d​b​a​u​_​u​n​d​_​S​i​e​d​l​e​r​.​pdf, Seiten­aufruf: 17.09.2018. ↩︎
Güter­bahn­hof­areal Freiburg: Stra­ßen­profil mit teilweise circa 45 Meter Breite.
Aus welchem Grund die Ausbil­dung der mittleren Zone mit wenig Grün­be­wuchs und unklarem Fußgän­ger­be­reich ausge­bildet ist, ist nicht erklärbar, Foto: Hannelore Pfeifer
Güter­bahn­hof­areal Freiburg. Vertei­ler­strasse mit PKW Park­streifen, Fußgän­gerweg + Gebäu­de­vor­zone.
Fahr­weg­breite circa 6,5 Meter, kein Fahr­radweg gekenn­zeichnet, Fotos: Hannelore Pfeifer
Güter­bahn­hof­areal Freiburg: Stra­ßen­breite circa 12,5 Meter + PKW Park­streifen und Fußgän­gerweg – bislang ohne Ausbil­dung eines Fahr­rad­wegs
NKBAK Archi­tekten, Euro­päi­sche Schule Frankfurt, Frankfurt am Main 2013 – 2015, Foto: Thomas Mayer