Urbane Textur

Buch der Woche: Die Schönheit des Alltäg­li­chen

Es muss um 1970 herum gewesen sein, und für uns Kinder war es ein span­nendes Spektakel: Unsere beschau­liche Wohn­straße in Essen wurde gründlich umge­krem­pelt. Mona­te­lang verwan­delten Bagger, Hublader und Lkw die Straße in eine Mond­land­schaft. Atlas, Cater­pillar, Magirus-Deutz: Baufahr­zeuge bestimmten das Bild. Kopf­stein­pflaster, Klein­mo­saik und Gasla­ternen kamen raus, Asphalt, Beton­stein und Elek­tro­leuchten traten an ihre Stelle. Die ganz normale Moder­ni­sie­rung, wie sie in West­deutsch­land in der Nach­kriegs­zeit überall üblich war. Die Großstadt Essen hatte damals fast 750.000 Einwohner, die Million wurde angepeilt, eine gigan­to­ma­ni­sche U‑Bahn in die City versenkt. Das Wirt­schafts­wunder brummte. Heute ist die U‑Bahn über­di­men­sio­niert, und die Einwoh­ner­zahl stagniert bei 580.000.

In der deutschen Haupt­stadt Berlin ist eine vergleich­bare Moder­ni­sie­rungs­welle in beiden Stadt­hälften aus bekannten geopo­li­ti­schen Gründen bis 1990 ausge­blieben. Im Ostteil wurde die einzige U‑Bahn-Neubau­strecke mangels neuem rollendem Material mit umge­bauten Vorkriegs-S-Bahn-Zügen bedient, und im Westteil fuhren bis weit in die 1990er Jahre hinein muse­ums­reife S‑Bahn-Waggons der Baureihen Stadtbahn (1928) und Olympia (1936) im Regel­be­trieb, während die nicht mehr gebrauchten Eisen­bahn­flä­chen später zu über­wu­cherten Erleb­nis­parks wie am Schö­ne­berger Südge­lände umge­staltet werden konnten. Wer um 1990 nach Berlin kam, konnte diesen sicht­baren Erneue­rungs­stau der öffent­li­chen Infra­struktur als roman­tisch erleben. Der Jour­na­list Frank Peter Jäger hat daraus nun ein Buch gemacht.

„Berlin – Die Schönheit des Alltäg­li­chen“ ist ein relevant bebil­dertes Feuil­leton, keine fach­wis­sen­schaft­liche Abhand­lung. Die Grund­these: „Das Gesicht und damit die Identität einer Stadt wie Berlin sind untrennbar verbunden mit der Gestalt ihrer öffent­li­chen und halb­öf­fent­li­chen Räume. Wo diese Gestalt, ihre Formen und Mate­ria­lien verloren gehen, verliert die Stadt über kurz oder lang ihr Gesicht.“ Hier steht Jäger den Freunden der „Schönheit der Stadt“ um Christoph Mäckler ausdrück­lich nahe. Wie für diese ist auch für Jäger vor allem das schön, was aus der Vergan­gen­heit stammt und heute durch undurch­dachte, tech­no­kra­ti­sche und „auf die Bauleit­pla­nung ausge­rich­tete Stadt­pla­nung“ bedroht ist.

Das Berliner Mietshaus, die Berliner Brandwand, die schle­si­schen Gehweg­platten und die Gas-Stra­ßen­be­leuch­tung werden in einzelnen Aufsätzen ebenso beleuchtet wie die Denk­mal­ge­schichte der Berliner U‑Bahn oder die Bauten von Hans Heinrich Müller für die „Elek­tro­polis“, wie die in den 1920er Jahren elek­tri­fi­zierte Metropole heute genannt wird. Entstanden ist „ein weit gefä­cherter Überblick über die Schönheit dieser Stadt“. Es ist kein reines Fotobuch geworden, aber die Bilder­welt stützt sich hier haupt­säch­lich auf Arbeiten von fünf Absol­venten der „Neuen Schule für Foto­grafie“, die ein „immerhin 25 Jahre umspan­nendes Panorama zwischen 1990 und heute“ aufspannen.

Bei aller edito­ri­schen Sorgfalt, die Jäger und seine Co-Autoren hier aufge­bracht haben, bleibt ein solcher Sammel­band natur­gemäß ein unvoll­stän­diges Streif­licht. Mühelos fielen einem weitere Themen ein, die hier auch noch hätten behandelt werden können: die Typo­gra­phie der Berliner Stra­ßen­schilder und Haus­num­mern zum Beispiel, die wilhel­mi­ni­schen Schulen und Kran­ken­häuser des Stadt­bau­rats Hermann Blan­ken­stein oder die moderat modernen Bahnhöfe des Reichs­bahn­rats Richard Brademann. Die Abwe­sen­heit dieser Aspekte wäre kein Mangel, wenn die Aufsätze zu den behan­delten Themen nicht so arg detail­liert wären: Autoren wie Jan Gympel plat­zieren hier ihre Stecken­pferd-Anliegen (das mangelnde Bewusst­sein der Verkehrs­be­triebe für den Denk­mal­wert ihrer U‑Bahn-Bauten) und machen das Buch damit stel­len­weise zum Austra­gungsort von Nicke­lig­keiten nach dem Muster „Was ich schon immer zu sagen wusste“. Dem Anliegen der Schönheit hätte mehr Gelas­sen­heit gutgetan, zumal in der Berliner öffent­li­chen Infra­struktur gerade wegen der ausge­blie­benen flächen­de­ckenden Sanie­rungs­wellen heute viel mehr von der „guten alten Zeit“ erhalten geblieben ist als anderswo. Inzwi­schen greift längst der Denk­mal­schutz in Zusam­men­spiel mit einem gestie­genen Bewusst­sein für den Wert der Dinge: Kürzlich wurde sogar der Pop-Art-beein­flusste, weit­läu­fige U‑Bahnhof Schloß­straße in Berlin-Steglitz förmlich unter Schutz gestellt.

Benedikt Hotze

Frank Peter Jäger (Hrsg.): Berlin – Die Schönheit des Alltäg­li­chen. Urbane Textur einer Großstadt, 192 S., zahlr. farb. und s/​w. Abb., Hardcover, 28,– Euro, Jovis Verlag, Berlin 2017, ISBN 978–3‑86859–380‑8

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