Von Bäder­tou­rismus bis City Break

Eine kurze Geschichte des Reisens

Während Thomas Cook just vor seiner Insolvenz 2019 noch 600.000 Urlauber in alle Welt verteilt hatte, die nach dem Konkurs in großen Rück­hol­ak­tionen in ihre Heimat­länder überführt werden mussten, begann die Geschichte des Touris­tik­kon­zerns 1841 mit einer orga­ni­sierten Eisen­bahn­fahrt von Leicester ins elf Meilen entfernte Lough­bo­rough. In dem erschwing­li­chen Ticket­preis von einem Shilling waren Tee und Schin­ken­brot enthalten – es handelte sich um eine der ersten Pauschal­reisen. Die Histo­ri­kerin Sina Fabian zeichnet die allmäh­liche Demo­kra­ti­sie­rung, Globa­li­sie­rung und Inten­si­vie­rung des Reisens in ihrem geschicht­li­chen Überblick nach. In der Rückschau wird deutlich, wie weit wir uns heute von den Anfängen des Reisens entfernt haben.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hun­derts konnte man in beliebten touris­ti­schen Gegenden ein unge­wöhn­li­ches Phänomen beob­achten. Zahl­reiche Besu­che­rinnen und Besucher standen mit dem Rücken zu einer als besonders schön geltenden Szenerie und schauten in einen kleinen, getönten und gewölbten Spiegel – ein soge­nanntes Claude-Glas. Der Effekt war mit einem modernen digitalen Filter vergleichbar: Die so wahr­ge­nom­mene Land­schaft verwan­delte sich durch die Rahmung und die gedeckten Farben in ein Gemälde, das dem Stil des namens­ge­benden Land­schafts­ma­lers Claude Lorrain (1600 – 1682) glich.1Vgl. Jörg Gleiter: Claude-Glas. Archi­tek­tur­kritik und Feuil­leton, in: Wolf­diet­rich Schmied-Kowarzik (Hrsg.): Zwischen den Kulturen. Im Gedenken an Heinz Paetzold, Kassel 2012, S. 174 – 179. ↩︎

Etwa zur selben Zeit befand sich der noch jugend­liche Georg Forster an Bord des Expe­di­ti­ons­schiffs Reso­lu­tion, das James Cook für seine zweite Welt­um­se­ge­lung nutzte. Forsters Vater war als wissen­schaft­li­cher Beob­achter ange­heuert worden und nahm seinen Sohn mit auf die drei­jäh­rige Reise, die sie unter anderem nach Neusee­land, Tahiti und die Oster­in­seln führte. Neben der Beschrei­bung der Pflan­zen­welt beob­ach­tete und beschrieb Georg Forster auch die Bevöl­ke­rungen der jewei­ligen Inseln und gilt damit als einer der ersten deutschen Ethno­logen. Mit seinem lite­ra­ri­schen Reise­be­richt „Reise um die Welt“ begrün­dete er die moderne deutsche Reise­li­te­ratur.

Thomas Cook & Son, Cook’s Oriental Travel­lers‘ Gazette and Home & Foreign Adver­tiser, 1892

Damit sind zwei Reise­mo­tive ange­spro­chen, die bis heute Urlaubs­reisen prägen: zum einen das roman­ti­sche Erleben der Natur und zum anderen der Wunsch, etwas Neues zu erfahren und zu entdecken. Im Folgenden konzen­triert sich dieser Beitrag auf Reisen, die nicht aus reli­giösen, wirt­schaft­li­chen oder poli­ti­schen Gründen unter­nommen wurden. Es handelt sich dabei um Vergnügungs‑, Bildungs- und Erho­lungs­reisen im weitesten Sinne.2 Um eine Urlaubs­reise zu unter­nehmen, waren und sind zwei Voraus­set­zungen unab­dingbar: Geld und Zeit. Daran hat sich in den vergan­genen 300 Jahren wenig geändert, jedoch hat sich der Kreis derje­nigen, die eine Urlaubs­reise unter­nehmen können, erheblich erweitert. Reisen waren zunächst ein Eliten­phä­nomen und mit hohem Prestige verbunden. Die Geschichte des modernen Reisens ist eine der lang­fris­tigen Demo­kra­ti­sie­rung, wobei soziale Ungleich­heiten bestehen blieben. Auch heute noch sind mit Reisen Prestige, Abgren­zung und sozialer Status verbunden. Aller­dings wird das unbe­schwerte Reisen seit einiger Zeit mit Blick auf die ökolo­gi­schen Kosten getrübt. Deshalb stellen sich die Fragen umso dring­li­cher, aus welchen Motiven Menschen verreisen und welche histo­ri­schen Entwick­lungen das zeit­ge­nös­si­sche Reisen prägten.3Für ältere, vormo­derne Reisen vgl. Hermann Bausinger / Klaus Beyrer (Hrsg.): Reise­kultur. Von der Pilger­fahrt zum modernen Tourismus, München 1999. ↩︎Vgl. dazu Sina Fabian: Geschichte des Reisens, Erfurt 2024. ↩︎

Vom Kurauf­ent­halt zum modernen Strand­ur­laub

Groß­bri­tan­nien nahm in der Ausbil­dung des modernen Tourismus eine Vorrei­ter­rolle ein. Zum einen spielte dort Konsum früher eine bedeu­ten­dere Rolle als in anderen Ländern. Mit dem Indus­trie­ka­pi­ta­lismus entwi­ckelte sich eine Schicht vermö­gender Unter­neh­me­rinnen und Bürger, sodass die Zahl derer, die sich eine Reise zum Vergnügen leisten konnten, größer war als in anderen Staaten. In der Folge zeigten sich jedoch auch die Schat­ten­seiten einer indus­tria­li­sierten Gesell­schaft im Verei­nigten König­reich früher – und damit das Bedürfnis nach Erholung von der Arbeit und den gesund­heits­schäd­li­chen Auswir­kungen der Indus­tria­li­sie­rung und Urba­ni­sie­rung.4 So bildete sich bald eine touris­ti­sche Infra­struktur heraus.Hartmut Berghoff et al. (Hrsg.): The Making of Modern Tourism. The Cultural History of the British Expe­ri­ence, 1600 – 2000, New York 2002. ↩︎

Auch der moderne Kur- und Bäder­tou­rismus entwi­ckelte sich zunächst in Groß­bri­tan­nien. Voraus­set­zung zur Entwick­lung eines Kurbades war das Vorkommen von natür­li­chen Mineral- oder Ther­mal­quellen. Diese galten schon in der Antike als gesund­heits­för­dernd. Eine Vielzahl der Kurstädte, die sich seit dem 17. Jahr­hun­dert zu bedeu­tenden Anzie­hungs­punkten entwi­ckelten, waren schon in römischen Zeiten bekannt, darunter Spa in Belgien (dessen Name seit dem 18. Jahr­hun­dert im Engli­schen allgemein für Heilbad steht), Bath in Südeng­land sowie Baden-Baden und Wiesbaden. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahr­hun­derts gewannen Trink­kuren gegenüber Badekuren an Bedeutung. Es entstanden Trink­brunnen und Brun­nen­häuser. Bath entwi­ckelte sich zur bedeu­tendsten Kurstadt im 18. Jahr­hun­dert. In diesem Zeitraum stieg seine Einwoh­ner­zahl von zwei- bis drei­tau­send auf 33.000. Zur selben Zeit verzeich­nete es 40.000 Gäste jährlich und stand damit unan­ge­fochten an der Spitze der Spa towns. Die steigende Bedeutung ging mit einem Um- und Ausbau der Stadt einher, der sich an den Vorlieben für Konsum- und Unter­hal­tungs­mög­lich­keiten der Kurgäste orien­tierte. Bath war Vorrei­terin und Trend­set­terin in der Ausbil­dung einer Spa-Kultur, die sich in vergleich­barer Weise später in anderen Kurstädten im In- und Ausland etablierte. Eine besondere Bedeutung kam dem Spazie­ren­gehen zu. Dafür wurden große Park­an­lagen mit Brunnen geschaffen, sodass die Gäste dieses mit dem Trinken des Mine­ral­was­sers verbinden konnten.5 Hatte zunächst noch der gesund­heit­liche Aspekt überwogen, wurde er schnell durch den Wunsch nach Unter­hal­tung sowie dem sozialen und beruf­li­chen Netz­werken in den Hinter­grund gedrängt. In Bath wurden Neuan­kömm­linge dazu aufge­for­dert, ihre Namen und Adressen in ein öffent­lich zugäng­li­ches Buch einzu­tragen. Außerdem veröf­fent­lichten Zeitungen die Namen der neuan­ge­kommen Gäste.Zu Kurstädten in Europa vgl. Volkmar Eidloth (Hrsg.): Euro­päi­sche Kurstädte und Modebäder des 19. Jahr­hun­derts, Heidel­berg, Stuttgart 2012. ↩︎

Thomas Cook & Son, Map of Cook’s Tours in Europe, 1898

Die Kurgäste im Verei­nigten König­reich und im 19. Jahr­hun­dert auch in Deutsch­land und in Böhmen waren äußerst inter­na­tional. Die Bäder waren Treff­punkte und Heirats­märkte für die euro­päi­sche und US-ameri­ka­ni­sche Haute­volee. Nachdem jedoch auch vermehrt bürger­liche Reisende in den Kurstädten verweilten, suchten adelige und groß­bür­ger­liche Urlau­be­rinnen und Urlauber nach einem neuen Ziel und fanden es am Wasser: Das Meer und die Küste galten bis zum 18. Jahr­hun­dert als unbe­re­chen­bare, gefähr­liche Orte, von denen Stürme und Fluten ausgingen. Danach änderte – und roman­ti­sierte – sich die Wahr­neh­mung, infol­ge­dessen die Gefahren ausge­blendet wurden.6 Die Entwick­lung der Seebäder ähnelte der der Kurstädte. Zunächst sprachen medi­zi­ni­sche Gründe für das Baden im Meer. Daraus entwi­ckelte sich jedoch nach kurzer Zeit eine touris­ti­sche Infra­struktur. Ihre Hochphase erlebten die Seebäder im 19. Jahr­hun­dert, als sie sich zu Reise­zielen des Bürger­tums wandelten. Beamte und Ange­stellte in höheren Posi­tionen verfügten bereits im Deutschen Kaiser­reich über bezahlte Urlaubs­tage, anders als kleinere Ange­stellte und die gesamte Arbei­ter­schaft. Nicht die körper­liche Arbeit galt als so anstren­gend, dass man sich von ihr erholen musste, sondern die geistige. Im bürger­li­chen Selbst­ver­ständnis sollte ein Urlaub am Meer deshalb in erster Linie Entspan­nung und Erholung bringen. Die arbeits­freie Zeit sollte zur Rege­ne­ra­tion genutzt werden, um danach wieder mit vollem Einsatz arbeiten zu können.Alain Corbin: Meeres­lust. Das Abendland und die Entde­ckung der Küste 1750 – 1840, Berlin 1990. ↩︎

Ein „Bade­ur­laub“ unter­schied sich jedoch bis ins 20. Jahr­hun­dert deutlich von dem uns heute bekannten. Im Meer wurde nicht geplanscht oder geschwommen, sondern nach medi­zi­ni­schen Vorschriften nur kurz einge­taucht. Die Badegäste hielten sich, wenn überhaupt, angezogen am Strand auf. Gebräunte Haut galt als „unfein“. In den 1920er-Jahren begannen US-ameri­ka­ni­sche und euro­päi­sche Künst­le­rinnen und Intel­lek­tu­elle, unter anderem F. Scott Fitz­ge­rald und seine Frau Zelda, Ernest Hemingway und Pablo Picasso eine neuartige Form des Urlaubs zu zele­brieren. Sie verbrachten die Sommer­mo­nate – und nicht den Winter, wie es bisher üblich war – an der fran­zö­si­schen Riviera. Tagsüber kulti­vierten sie das neuartige Sonnen­baden am Strand. Nach­mit­tags tranken sie Cocktails am Pool, aßen auf der Terrasse oder in einem Restau­rant zu Abend. Was aus heutiger Sicht wie ein durch­schnitt­li­cher Urlaubstag am Meer klingt, war aufgrund des verherr­lichten Hedo­nismus etwas Neues. Die US-ameri­ka­ni­schen und euro­päi­schen Bohemiens waren dabei Pioniere; durch sie entwi­ckelte sich die fran­zö­si­sche Riviera zu einem Sommer­rei­se­ziel. 1931 entschieden Hoteliers an der Côte d’Azur erstmals, ihre Unter­künfte während der Sommer­mo­nate geöffnet zu lassen.7Orvar Löfgren: On Holiday. A History of Vaca­tio­ning, Berkeley 2002. ↩︎

Schneller, weiter, sicherer: Neue Reise­formen und neue Reisende

Cook’s Nile and Palestine Tours poster, 1901

Die dampf­be­trie­bene Eisenbahn war Motor des sich im 19. Jahr­hun­dert heraus­bil­denden modernen Tourismus. Eine Reise von Köln nach Berlin verkürzte sich von einer knappen Woche auf 14 Stunden. Um 1900 benö­tigten Reisende von London nach Paris etwa acht Stunden. Früh­zeitig bemerkten zeit­ge­nös­si­sche Beob­ach­te­rinnen und Beob­achter, dass die Eisenbahn erheb­liche Auswir­kungen auf das Raum-Zeit-Empfinden hatte.8 Neue Ziele rückten in den Horizont der Reisenden. Sobald Touris­mus­de­sti­na­tionen wie See- und Heilbäder über einen Bahn­an­schluss verfügten, verviel­fachte sich die Zahl der Gäste. Arbei­te­rinnen und Arbeiter konnten nun Tages­aus­flüge ans Meer unter­nehmen, ohne einen Arbeitstag zu verpassen. Mit der wesent­lich höheren Geschwin­dig­keit verän­derte sich auch die Land­schafts­wahr­neh­mung während der Reise. Vorbei­zie­hende Dinge konnten nicht mehr detail­liert betrachtet werden; Land­schaft wurde eher als Anein­an­der­rei­hung schnell wech­selnder Panoramen wahr­ge­nommen.Wolfgang Schi­vel­busch: Geschichte der Eisen­bahn­reise. Zur Indus­tria­li­sie­rung von Raum und Zeit im 19. Jahr­hun­dert, München 1977. ↩︎

Die Etablie­rung des wohl bekann­testen Reise­ver­an­stal­ters, Thomas Cook, hing unmit­telbar mit dem neuen Reise­mittel zusammen. Cook wird häufig als der „Erfinder“ der Pauschal­reise genannt. Aller­dings hat die neuere Forschung gezeigt, dass es parallel zu ihm um 1840 mehrere Unter­nehmer und Eisen­bahn­ge­sell­schaften gab, die Grup­pen­aus­flüge mit der Bahn orga­ni­sierten.9 Cooks Funktion beschränkte sich zunächst darauf, die Reise­route zu planen, wozu auch die Koor­di­na­tion der unter­schied­li­chen Verkehrs­mittel gehörte, und vergüns­tigte Fahr­karten zu verkaufen. In den 1860er-Jahren orga­ni­sierte er erste Reisen in die Schweiz und nach Italien. Sie richteten sich an eine zahlungs­kräf­tige Kund­schaft aus dem Bürgertum. Das Neue daran war, dass Menschen in Gruppen und nicht mehr indi­vi­duell unterwegs waren. Die Grup­pen­größe variierte je nach Reiseziel: Ausflüge im Inland wurden nicht selten von mehr als tausend Personen auf einmal in Anspruch genommen. An der ersten Reise durch Italien nahmen 140 Personen teil. Dadurch war es möglich, die Reisen zu einem deutlich güns­ti­geren Preis anzu­bieten als eine indi­vi­duell orga­ni­sierte Tour. Sie boten zudem mehr Sicher­heit. Dies waren – und sind auch heute noch – zwei wesent­liche Gründe, weshalb Pauschal­reisen bevorzugt wurden. Vor allem allein reisenden Frauen war es so möglich, an den Fahrten teil­zu­nehmen. Sie waren in den meisten Reise­gruppen sogar in der Überzahl, da sie norma­ler­weise keiner Erwerbs­tä­tig­keit nach­gingen und daher Zeit für die oft mehr­wö­chigen Trips hatten. Seit den 1870er-Jahren lagen Thomas Cooks Ziele zunehmend außerhalb Europas. Die Routen führten häufig durch die Türkei, Palästina (das „Heilige Land“), Syrien und durch Ägypten. Eine kürzere Reise durch Palästina und Ägypten dauerte 70 Tage. Sie richteten sich, das wird einmal mehr deutlich, an eine kleine, privi­le­gierte Schicht, die die zeit­li­chen und finan­zi­ellen Mittel für ein solches Abenteuer besaß.Jörn W. Mundt: Thomas Cook. Pionier des Tourismus, Konstanz 2014. ↩︎

Es sollte noch weitere 100 Jahre dauern, bis ein weiterer erheb­li­cher Demo­kra­ti­sie­rungs­schub breiteren west­eu­ro­päi­schen Bevöl­ke­rungs­schichten eine Reise ins Ausland ermög­lichte. In den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre fielen mehrere Entwick­lungen zusammen, die deutlich güns­ti­gere Flug­pau­schal­reisen ins Ausland zur Folge hatten. Dank neuer Düsen­flug­zeuge war beispiels­weise kein Zwischen­stopp auf dem Weg nach Mallorca mehr nötig. 1971 ging zudem die Boeing 747 – der Jumbo-Jet – an den Start. Der Groß­raum­flieger eignete sich besonders gut für Feri­en­flüge, da die Auslas­tung besser planbar war als bei Lini­en­flügen. Außerdem wurde der bis dahin streng regu­lierte Flug­ver­kehr libe­ra­li­siert. Auch bei solcherlei Auslands­reisen verspra­chen Pauschal­an­ge­bote nicht nur güns­ti­gere Preise, sondern vor allem Sicher­heit und waren somit insbe­son­dere für Uner­fah­rene attraktiv. Sprach­bar­rieren konnten etwa dank Reise­lei­te­rinnen oder ‑leitern umgangen werden.

Thomas Cook & Son, Jamaica – the Gem of the Tropics, 1910

Die 1990er-Jahre waren durch eine weitere Dyna­mi­sie­rung des Reisens geprägt. Nach dem Zerfall der Sowjet­union kamen zum einen Reise­ziele in Osteuropa hinzu. Zum anderen war es nun auch der dortigen Bevöl­ke­rung – die finan­zi­ellen Mittel voraus­ge­setzt – möglich, die ganze Welt zu bereisen. Insgesamt globa­li­sierten sich Urlaubs­reisen stärker als in den Jahr­zehnten zuvor. Die einsei­tige one way-Reise west­eu­ro­päi­scher und nord­ame­ri­ka­ni­scher Touris­tinnen und Touristen, die dank ihrer ökono­mi­schen Ressourcen bisher zu Gast auf der ganzen Welt sein konnten, wurde zunehmend zu einer two way-Reise: Auch die USA und Europa wurden Reise­ziele asia­ti­scher, südame­ri­ka­ni­scher und in gerin­gerem Maße afri­ka­ni­scher Urlau­be­rinnen und Urlauber. Zwischen 1995 und 2015 hat sich die Anzahl grenz­über­schrei­tender Reisen auf 1,2 Milli­arden mehr als verdop­pelt. Einen kaum zu unter­schät­zenden Einfluss hatte der Aufstieg soge­nannter „Billi­g­air­lines“ in Europa. Möglich machte dies eine weitere Dere­gu­lie­rung des Luft­ver­kehrs. Infol­ge­dessen nahmen Städ­te­trips innerhalb Europas erheblich zu. Was den jüngsten Städ­te­tou­rismus von dem histo­ri­schen unter­scheidet, ist die Dauer des Urlaubs. Es handelt sich zumeist um Kurztrips bezie­hungs­weise „city breaks“, die die begrenzte Zeit bereits im Namen tragen, während die Reisen und Aufent­halte in auslän­di­schen Städten im 19. Jahr­hun­dert mindes­tens mehrere Wochen, wenn nicht Monate in Anspruch nahmen.

Touristen sind immer die Anderen – Histo­ri­sche und aktuelle Kritik am Tourismus

Touris­mus­kritik ist so alt wie der moderne Tourismus selbst. Bereits im frühen 19. Jahr­hun­dert echauf­fierten sich britische adelige Reisende über die reisenden „Massen“ aus dem wohl­ha­benden Bürgertum. Sie unter­schieden bereits zu dieser Zeit zwischen „Reisenden“ („travel­lers“) und „Touristen“ („tourists“).10 Mit dem Aufkommen von Pauschal- und Grup­pen­reisen inten­si­vierte sich die Kritik noch. Sie erwies sich als erstaun­lich langlebig und verän­derte sich im Lauf von mehr als 150 Jahren kaum. Erklären lässt sich dies mit dem sozialen und kultu­rellen Kapital (Pierre Bourdieu), das mit Reisen, insbe­son­dere ins Ausland, verbunden war und ist. Durch das Aufkommen von Cooks Grup­pen­reisen und 100 Jahre später durch die Flug­pau­schal­reisen gerieten Reise­pri­vi­le­gien zunehmend unter Druck. Auf Prestige bedachte Reisende versuchten sich deshalb nicht mehr darüber zu defi­nieren, wohin, sondern wie sie reisten. Sie waren gleich­wohl häufig Trend­setter des Tourismus, ihre Art des Reisens wurde von anderen nach­ge­ahmt. So popu­la­ri­sierten diese alter­nativ Reisenden nicht selten, ohne es zu wollen, neue Ziele wie etwa Ibiza, Kreta oder Bali, die ihrer­seits das „Hippie“-Image zu Marke­ting­zwe­cken nutzten.James Buzard: The Beaten Track. European Tourism, Lite­ra­ture, and the Ways to Culture, 1800 – 1918, Oxford, New York 1993. ↩︎

Der „Jet-Set“-Lifestyle, der seine hohen ökolo­gi­schen Kosten bereits im Namen trägt, galt, über die Massen­me­dien vermit­telt, lange als erstre­bens­wertes Vorbild. Durch Kreuz­fahrten und Billi­g­air­lines war und ist es auch durch­schnitt­lich Verdie­nenden möglich, dieses Leben nach­zu­ahmen. Während jahr­hun­der­te­lang die Auswei­tung des Tourismus den Haupt­kri­tik­punkt darstellte, der sich in hohem Maße auf einen wahr­ge­nommen Verlust von Prestige und Privi­le­gien zurück­führen lässt, steht seit Kurzem das Reisen wegen seiner ökolo­gi­schen und globalen Kosten generell in der Kritik. Diese richtet sich nicht in erster Linie an die Familie, die einen zwei­wö­chigen Urlaub auf Mallorca verbringt, sondern an Viel­ur­lauber und Viel­flie­ge­rinnen, die zum Skifahren nach Kanada reisen, eine mehr­wö­chige Fernreise mit zahl­rei­chen Flügen unter­nehmen oder gar auf ihrer eigenen Yacht urlauben. Eine Luxus­yacht emittiert so viel CO2 wie 2400 deutsche Durch­schnitts­ver­brau­cher pro Jahr.11 Das Wissen um die Umwelt­schäd­lich­keit bestimmter Reise­formen geht jedoch nicht unbedingt mit einer Änderung des Reise­ver­hal­tens einher: Obwohl die öffent­liche Debatte in den letzten Jahren von einem Umdenken geprägt war, nahmen Flug­reisen sowohl 2019 – vor dem Ausbruch der Covid-Pandemie – als auch 2023 trotz deutlich gestie­gener Preise zu.12https://​taz​.de/​U​n​g​l​e​i​c​h​h​e​i​t​-​b​e​i​-​T​r​e​i​b​h​a​u​s​g​a​s​e​m​i​s​s​i​o​n​e​n​/​!​5​8​1​4​6​83/ (15.4.24). ↩︎https://​www​.destatis​.de/​D​E​/​T​h​e​m​e​n​/​L​a​e​n​d​e​r​-​R​e​g​i​o​n​e​n​/​I​n​t​e​r​n​a​t​i​o​n​a​l​e​s​/​T​h​e​m​a​/​V​e​r​k​e​h​r​/​L​u​f​t​v​e​r​k​e​h​r​P​a​s​s​a​g​i​e​r​z​a​h​l​e​n​.​h​tml; https://​www​.tages​schau​.de/​w​i​r​t​s​c​h​a​f​t​/​l​u​f​t​f​a​h​r​t​-​r​e​k​o​r​d​-​k​o​m​m​e​r​z​i​e​l​l​e​r​-​f​l​u​e​g​e​-​f​l​i​g​h​t​r​a​d​a​r​-​1​0​0​.​h​tml (15.4.24). ↩︎

Dr. Sina Fabian ist wissen­schaft­liche Mitar­bei­terin am Institut für Geschichts­wis­sen­schaften an der Humboldt-Univer­sität zu Berlin. Ihre Forschungs­schwer­punkte liegen in der deutschen und briti­schen Geschichte des 20. Jahr­hun­derts. Sie forscht zur Geschichte des Reisens, des Auto­fah­rens und des Alko­hol­kon­sums.

  1. Vgl. Jörg Gleiter: Claude-Glas. Archi­tek­tur­kritik und Feuil­leton, in: Wolf­diet­rich Schmied-Kowarzik (Hrsg.): Zwischen den Kulturen. Im Gedenken an Heinz Paetzold, Kassel 2012, S. 174 – 179. ↩︎
  2. Für ältere, vormo­derne Reisen vgl. Hermann Bausinger / Klaus Beyrer (Hrsg.): Reise­kultur. Von der Pilger­fahrt zum modernen Tourismus, München 1999. ↩︎
  3. Vgl. dazu Sina Fabian: Geschichte des Reisens, Erfurt 2024. ↩︎
  4. Hartmut Berghoff et al. (Hrsg.): The Making of Modern Tourism. The Cultural History of the British Expe­ri­ence, 1600 – 2000, New York 2002. ↩︎
  5. Zu Kurstädten in Europa vgl. Volkmar Eidloth (Hrsg.): Euro­päi­sche Kurstädte und Modebäder des 19. Jahr­hun­derts, Heidel­berg, Stuttgart 2012. ↩︎
  6. Alain Corbin: Meeres­lust. Das Abendland und die Entde­ckung der Küste 1750 – 1840, Berlin 1990. ↩︎
  7. Orvar Löfgren: On Holiday. A History of Vaca­tio­ning, Berkeley 2002. ↩︎
  8. Wolfgang Schi­vel­busch: Geschichte der Eisen­bahn­reise. Zur Indus­tria­li­sie­rung von Raum und Zeit im 19. Jahr­hun­dert, München 1977. ↩︎
  9. Jörn W. Mundt: Thomas Cook. Pionier des Tourismus, Konstanz 2014. ↩︎
  10. James Buzard: The Beaten Track. European Tourism, Lite­ra­ture, and the Ways to Culture, 1800 – 1918, Oxford, New York 1993. ↩︎
  11. https://​taz​.de/​U​n​g​l​e​i​c​h​h​e​i​t​-​b​e​i​-​T​r​e​i​b​h​a​u​s​g​a​s​e​m​i​s​s​i​o​n​e​n​/​!​5​8​1​4​6​83/ (15.4.24). ↩︎
  12. https://​www​.destatis​.de/​D​E​/​T​h​e​m​e​n​/​L​a​e​n​d​e​r​-​R​e​g​i​o​n​e​n​/​I​n​t​e​r​n​a​t​i​o​n​a​l​e​s​/​T​h​e​m​a​/​V​e​r​k​e​h​r​/​L​u​f​t​v​e​r​k​e​h​r​P​a​s​s​a​g​i​e​r​z​a​h​l​e​n​.​h​tml; https://​www​.tages​schau​.de/​w​i​r​t​s​c​h​a​f​t​/​l​u​f​t​f​a​h​r​t​-​r​e​k​o​r​d​-​k​o​m​m​e​r​z​i​e​l​l​e​r​-​f​l​u​e​g​e​-​f​l​i​g​h​t​r​a​d​a​r​-​1​0​0​.​h​tml (15.4.24). ↩︎

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Thomas Cook & Son, Cook’s Oriental Travel­lers‘ Gazette and Home & Foreign Adver­tiser, 1892
Thomas Cook & Son, Map of Cook’s Tours in Europe, 1898
Cook’s Nile and Palestine Tours poster, 1901
Thomas Cook & Son, Jamaica – the Gem of the Tropics, 1910