Von der Auto-Imme zum rollenden Gehsteig

Radikal Modern in der Berli­ni­schen Galerie

„Denn meine Gedanken, zerreißen die Schranken und Mauern entzwei, die Gedanken sind frei!“ Als Ernst Reuter 1948, auf dem Höhepunkt der Berliner Blockade, seine Rede hielt mit der Forderung, die Stadt nicht aufzu­geben, erschallte aus der Menge spontan genau dieses Volkslied. Auch wenn die Mauer die Stadt später teilte, Austausch und Wissens­transfer innerhalb der beiden Stadt­hälften und nach außen gab es trotzdem – Gedanken lassen sich nicht einsperren. Das liegt auf der Hand und wurde dennoch in Forschung und Ausstel­lungs­praxis bisher selten beleuchtet. Zum 40jährigen Jubiläum eröffnet die Berli­ni­sche Galerie nach einjäh­riger Sanie­rungs­pause mit einer Schau, die diese Lücke nun schließen möchte: Radikal Modern heißt sie und es geht um ein Jahrzehnt der Bautä­tig­keit in Ost- und West-Berlin, das an Utopien, großen Gedanken und Visionen sowie an radikalen Entwürfen nicht arm war: kurz, um die sechziger Jahre.

Der direkte Ost-West-Vergleich mit Hilfe von Fotos, Plänen, Modellen und Filmen zeigt, dass die Ideen so unter­schied­lich nicht waren. Und warum sollten sie es auch sein? Letztlich standen die Archi­tekten alle noch unter dem Einfluss der Inter­na­tio­nalen Moderne. Das macht die Ausstel­lung gleich im „Prolog“ klar, wo ihre Ikonen in Bildern vertreten sind: Mies van der Rohe, Le Corbusier, Oscar Niemeyer und Yona Friedman stehen sinn­bild­lich für die dahinter stehenden Ideen, die am promi­nen­testen in der CIAM vertreten wurden. Auch innerhalb Deutsch­lands waren die Archi­tekten vernetzt. Sie kannten sich von Konfe­renzen wie „Die Wohnung für das Exis­tenz­mi­nimum“ (1929) in Frankfurt, hatten vor dem Krieg dieselben Schulen besucht und waren von denselben Lehrer­per­sön­lich­keiten beein­flusst worden. Ein in der Ausstel­lung präsen­tierter Brief­wechsel von 1968 zwischen dem Ostber­liner Manfred Zumpe und Walter Gropius, der da schon in den USA lebte, belegt, dass die Kommu­ni­ka­tion auch im Kalten Krieg fort­be­stand  – wenn auch deutlich mehr Tricks nötig gewesen sein mussten, um diesen Austausch zu ermög­li­chen.

Dieter Urbach, Marx-Engels-Platz, Blick von Südwesten auf Dom und Fern­seh­turm, Berlin-Mitte, Bild­mon­tage, 1972 © Dieter Urbach/​Berlinische Galerie, Repro: Kai-Annett Becker

In thema­ti­schen Clustern stellt die Berli­ni­sche Galerie die Episoden und Leit­bilder, para­dig­ma­ti­sche Bauten, den Wett­streit der Systeme, die Suche nach Lösungen für Wohnungsnot, Monotonie im Massen­woh­nungsbau, Unwirt­lich­keit der Städte und erhöhtes Verkehrs­auf­kommen sowie immer wieder die – teils Utopie geblie­benen –  Träume von der Stadt von morgen vor. So verspielt, leicht und versponnen war es selten in der Archi­tektur, das zeigen auch Neuent­de­ckungen wie die Entwürfe für eine „Auto-Imme“, die als flug­fä­hige, propel­ler­be­trie­bene „Häuser­fa­brik“ DDR-Hoch­häuser bauen und die Wohnungsnot in Null­kom­ma­nichts bekämpfen sollte. Zeit­gleich hatten Georg Kohlmaier und Barna von Sartory die Idee eines rollenden Gehsteigs über den Ku‘damm, der die Passanten quer durch die Stadt mit einer Geschwin­dig­keit von bis zu 16 km/​h trans­por­tieren sollte.

Anliegen der Ausstel­lung sei es, „sich mit einer pauschal abge­lehnten Archi­tektur ausein­an­der­zu­setzen“, so Ursula Müller, die Leiterin der Archi­tek­tur­samm­lung und Kuratorin der Ausstel­lung. Als archi­tek­tu­raf­finer Ausstel­lungs­be­su­cher merkt man auf bei dieser Aussage: Denn, dass es so weit her mit der „pauschalen Ablehnung“ nicht ist, zeigen unzählige Fach­ta­gungen und Publi­ka­tionen der letzten Jahre, die sich durchaus affir­mativ mit der Archi­tektur der sechziger Jahre beschäf­tigen – etwa die zwei Tagungen, die 2011 und 2014 in Weimar die soge­nannte ‚Ostmo­derne‘ unter denk­mal­pfle­ge­ri­scher Perspek­tive neu bewer­teten, oder die Ausstel­lung des BDA „In der Zukunft leben“ 2009, die die Wahr­neh­mung von Archi­tektur und Städtebau der fünfziger bis siebziger Jahre unter­suchte. Auch beweisen die in der Berliner Ausstel­lung vertre­tenen zeit­ge­nös­si­schen Künstler wie Beate Gütschow und Bernd Trasberger, dass unter Jüngeren schon längst ein Umdenken statt­ge­funden hat. Außerhalb Deutsch­lands zeigte die viel­be­ach­tete Ausstel­lung „Cold War Modern“ 2008 in London erstmals in großem Maßstab Archi­tektur und Design im globalen Wettkampf der Systeme – und stellte fest, dass es neben vielen Unter­schieden mindes­tens genauso viele Gemein­sam­keiten gab. Dennoch ist die Berliner Ausstel­lung wichtig, da sie zu einer Popu­la­ri­sie­rung oder zumindest einem besseren Verständnis dieser Archi­tektur und der Ideen dahinter beiträgt.

Die Ausstel­lung speist sich zu 60 Prozent aus Beständen des Muse­ums­ar­chivs, und die hohe Qualität der gezeigten Objekte sprechen für die Sammlung. Eine wahre Entde­ckung sind die frisch restau­rierten Collagen von Dieter Urbach, die der Grafiker für Archi­tekten wie Josef Kaiser und Hermann Hensel­mann fertigte. Die Montagen waren dafür gedacht, der Auftrag gebenden Staats­füh­rung die Ideen der Entwürfe abseits vom Plan­ma­te­rial möglichst plastisch zu vermit­teln. So farben­froh, opti­mis­tisch und witzig bis ironisch hat man DDR-Archi­tektur selten insze­niert gesehen.

Bleibt die Frage, warum diese Periode im wissen­schaft­li­chen und kultu­rellen Diskurs gerade jetzt eine Renais­sance erlebt. Liegt es an unserer an Utopien so armen Gegenwart, die öko statt futuro postu­liert, Gesund­heit statt Exzess, Umwelt­be­wusst­sein statt Tech­nik­be­geis­te­rung? Oder kann man es anders­herum betrachten? Die Vergan­gen­heit ist aktuell, gerade weil heute wieder neue Utopien ausge­rufen werden, aller­dings andere: jene des gemein­schaft­li­chen Lebens und Arbeitens, des Lebens im Einklang mit der Natur, der Parti­zi­pa­tion aller gesell­schaft­li­chen Schichten. Wie man es auch dreht: Utopien sind sexy – und sie anzu­schauen und im wunder­baren Katalog darüber zu lesen, macht einfach Spaß.

Juliane Richter

Radikal Modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre
bis 26. Oktober 2015
Eintritt: 8,- Euro, erm. 5,- Euro
Öffnungs­zeiten: Mittwoch – Montag 10.00 – 18.00 Uhr

Berli­ni­sche Galerie
Alte Jakobstraße 124–128
10969 Berlin

Katalog
Thomas Köhler, Thomas / Müller, Ursula (Hrsg.): Radikal Modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre, 208 S. mit 245 Abbil­dungen, Wasmuth-Verlag, Tübingen 2015, 29,80 Euro, ISBN: 978–3‑940208–31‑6

Dieter Urbach, Marx-Engels-Platz, Blick von Südwesten auf Dom und Fern­seh­turm, Berlin-Mitte, Bild­mon­tage, 1972 © Dieter Urbach/​Berlinische Galerie, Repro: Kai-Annett Becker