Warten im Sozia­lismus

Buch der Woche: Soviet Bus Stops Volume II

Wer schon einmal in Moskau mit der Metro gefahren ist, hat eine Vorstel­lung davon, welch enorme Bedeutung den öffent­li­chen Verkehrs­mit­teln in der Sowjet­union einge­räumt wurde. Die gewal­tigen Dimen­sionen des U‑Bahnsystems offen­baren den Anspruch, Mobilität zu einem Allge­meingut der klas­sen­losen Gesell­schaft zu machen. In der palast­ähn­li­chen Pracht­ent­fal­tung zeigt sich indes, wie man im Sozia­lismus die Herr­schafts­ver­hält­nisse auch archi­tek­to­nisch im öffent­li­chen Raum sichtbar machen wollte. Während die Moskauer Metro weltweit bekannt ist, hat sich der Fotograf Chris­to­pher Herwig, bislang als erster, für die zahl­rei­chen, archi­tek­to­nisch absolut bemer­kens­werten Bushal­te­stellen aus der Sowjet­zeit inter­es­siert. Nach seinem erfolg­rei­chen Bildband „Soviet Bus Stops“ von 2015 ist nun die Fort­füh­rung „Soviet Bus Stops Volume II“ im Londoner Verlag Fuel Publi­shing erschienen, die endlich noch mehr fantas­ti­sche Exemplare dieser scheinbar so bedeu­tungs­losen Zweck­bauten versam­melt.

Inter­es­sant ist die Bushal­te­stelle schon insofern, als sie in gewisser Weise eine Art Mini­mal­ar­chi­tektur darstellt, die ein Mindestmaß an Schutz vor Witterung mit einem Mindestmaß an Komfort in Form einer Sitz­ge­le­gen­heit verbindet. Wie unwahr­schein­lich kreativ man diese Grund­an­for­de­rungen vari­ierten kann – von einfachen Pavillons mit farben­frohen Mosaiken bis hin zu Groß­skulp­turen, deren schüt­zende Funktion dem Anschein nach eher eine Neben­er­schei­nung ist –, verrät uns dieses Fotobuch.

So begegnet man hier einer riesigen Möwe aus Beton, die ihre gewal­tigen Flügel fürsorg­lich als Unter­schlupf für die Wartenden öffnet. An einem einfachen Unter­stand prangt das Mosaik einer nackten Kosmo­nautin, die für ihren Welt­raum­ein­satz offenbar lediglich einen Helm benötigt. Auf dem Well­blech­dach eines anderen gara­gen­ar­tigen Unter­stands ist eine statisch besorg­nis­er­re­gende, über­di­men­sio­nierte Metall­skulptur des drachen­tö­tenden Erzengels Michael platziert. Zu der Frage, wie es zu diesen kuriosen Ausfor­mungen gerade bei Bushal­te­stellen kommen konnte, gibt uns der Einfüh­rungs­text von Owen Heat­herley einige Hinweise.

So sieht er die gestal­te­ri­schen Ambi­tionen weniger als Aufleh­nung gegen die Monotonie und Indi­vi­dua­li­tätfeind­lich­keit des Sozia­lismus, sondern eher als Begleit­erschei­nung der infra­struk­tu­rellen Erschlie­ßung des Landes, mittels der der ländliche Raum näher an die Städte heran­rü­cken sollte. Die Bussta­tionen, die oft von Studenten entworfen wurden, sollten die Straßen verschö­nern und dabei nach Weisung der Regierung lokale und nationale Formen­spra­chen aufgreifen. Dennoch zeigen einige auch die Rezeption inter­na­tio­naler Archi­tek­tur­strö­mungen und sind in Teilen mit ihrer Lesbar­keit, Farbig­keit und ihrem Hang zum Kitsch als ferne Ableger der Post­mo­derne zu sehen. Erst durch die typo­lo­gi­sche Zusam­men­schau, die der Fotograf mit großem zeit­li­chen Aufwand ermög­licht hat, ist dieses Phänomen sichtbar geworden. Der Blick auf das „banale“ Kuriosum ist hier sehr lohnens­wert.

Elina Potratz

Chris­to­pher Herwig: Soviet Bus Stops Volume II, 192 S., zahlr. Abb., geb., 31,– Euro, FUEL Publi­shing, London 2017, ISBN 978099319113